Nach mehreren Jahrzehnten Marktbeobachtung wäre es erstaunlich, wenn einem bei der Durchsicht aktueller Auktionsangebote nicht das eine oder andere merkwürdig vertraute Stück begegnen würde, das Erinnerungen weckt oder Assoziationen hervorruft. Mit gutem Archiv oder gutem Gedächtnis kann man manches, das Anderen wie eine Neuentdeckung erscheint, per Handschlag als alten Kameraden willkommen heißen. Kenner werden außerdem verstehen, dass und weshalb sich dieser Eindruck bei einem postgeschichtlich immer so vielfältigen Angebot wie dem einer Schwanke-Auktion mit einiger Regelmäßigkeit einstellt. Ich greife im Folgenden nur vier der diesmaligen Schwanke-Specials heraus – einerseits, weil sie es als hervorhebenswerte philatelistische Exemplare allemal verdient haben, zum anderen, weil ich entweder gewisse Erinnerungen mit ihnen verbinde oder weil sie besondere Assoziationen wecken, die hier kurz auszubreiten vielleicht auch für Andere von Interesse ist.
Beim letzten Verkauf war ich dabei
Der 9. November 1991 war ein Samstag. Wiesbaden, Boker-Preußen-Versteigerung, kein Sitzplatz frei hinter mir im Saal: Mit den Losen 40 und 41 ruft Auktionator Volker Parthen zwei sehr seltsame preußische Briefe auf, die selbst erfahrenere Preußen-Sammler stutzen lassen: Beide tragen nämlich rückseitig Bogenränder der 1 Sgr. schwarz a. rosa (MiNr. 2) bzw. der 2 Sgr. schwarz a. blau (MiNr. 3), die keinerlei Druck aufweisen und bei denen es sich offensichtlich um Teile der unbedruckten Randstreifen dieser preußischen Freimarken handelt. Das erstgenannte Stück mag man wegen seiner Position auf dem Brief noch als amtlich entwertete Verschlussmarke deuten (es gibt noch einen zweiten, ähnlichen Brief aus der Auflösung der 2. Metzer-Sammlung).
Der zweite Beleg ist noch ungewöhnlicher. Denn das unbedruckte Randpapier der 2-Sgr.-Marke, das dieser Brief trägt, kann nicht zum umseitigen Briefverschluss gedient haben, haftet aber fest und original auf der Rückseite eines Zirkulars und trägt, wie die eigentliche Franktur, einen sauberen Abschlag des Nummernstempels „557“ von Gumbinnen. Orts- und (umseitig) Ankunftsstempel sind beigesetzt.
Schon im Vorfeld der Versteigerung war dieser Brief damals unter Preußen-Liebhabern Gegenstand kontroverser Diskussion gewesen, denn für die rückseitige Verwendung und die (auf das Briefpapier übergehende) Abstempelung des unbedruckten blauen Markenrandes auf der Briefrückseite gibt es keine nachvollziehbare postalische Erklärung. Dass es diesen feuchten Papierrest einer vorhergehenden regulären 2-Sgr.-Markenverwendung auf die Rückseite des Briefes verschlagen hat, mag man ja noch als Zufallsereignis glaubhaft finden. Das eigentlich Absonderliche ist aber gar nicht das Vorhandensein des unbedruckten Markenrandes auf der Rückseite. An einem Postschalter mag es vorgekommen sein, dass der Absender eines Briefes oder der Beamte selbst den Beleg versehentlich auf einen „Papierrest“ auf der Schaltertheke gelegt hat und dass dieser Papierrest auf Dauer haftengeblieben ist. Insoweit ist postalisch alles noch leidlich in Ordnung oder doch tolerabel.
Zum spannenden Problemfall wird dieser Beleg erst dadurch, dass der Postbeamte diesen Papierrest dann doch bemerkt, ihn zwar nicht als Freimarke der längst ausreichenden Frankatur hinzurechnet, ihn ansonsten aber doch wie eine Freimarke behandelt und mit einem Ringstempel „entwertet“ hat, damit nicht jemand auf den Gedanken verfalle, ihn zu eigenen Zwecken weiter zu verwenden.
Der Abschlag eines postalischen Stempels, eines preußischen zumal, ist eine hoheitliche Handlung. Mit einem solchen hoheitlichen Akt ist im vorliegenden Fall ein durch Vorgesetzte sanktionierbares Missgeschick in ein immerhin noch „amtlich zur Kenntnis genommenes“ Malheur abgemildert worden. Den Brief mit anhaftendem Bogenrand und mit dem örtlichen „Vernichtungsstempel“ (wie die preußischen Nummernstempel amtlich hießen) in die Welt hinausgehen zu lassen, mag dem Postbeamten als „das kleinere Übel“ erschienen sein, das er seinem Vorgesetzten notfalls noch eher hätte erklären können als ein völliges „Übersehen im Amt“, mithin eine durchaus gröbere Fehlleistung. So ganz nach dem Buchstaben der Postverordnung mag die Handlungsweise des Beamten wohl nicht gewesen sein; aber zum Vorteil der Post, des Postkunden und schließlich auch des Beamten selbst war sie schon.
Ein solcherart behandelter Beleg bleibt ein postamtlich und damit hoheitlich behandeltes postgeschichtliches Dokument, das auf eine spannendere Geschichte verweist als es einerseits ein ordnungsgemäßes Exemplar, andererseits die postseitige Ignorierung des rückseitig anhaftenden Markenrests je hätten sein können. Da die Orte der drei bekannten Fälle preußischer Ringstempelung von unbedruckten Markenrändern geographisch weit gestreut sind, besteht sicher keine realistische Gefahr einer Absprache oder einer nachträglichen Manipulation. Auch das ist einer der Gründe, weshalb ich damals, im November 1991, im Wiesbadener Auktionssaal auf diese Zwillings-Belege mitgeboten, es aber nicht all zu weit getrieben habe. Ich habe zwischenzeitlich mehr als einmal bedauert, nicht ausdauernder gewesen zu sein. Aber ich hatte so eine Ahnung, als würden wir uns noch einmal begegnen.
Der Anruf – oder: Elf grüne Oktogone
Das beliebte Kartenspiel „Elfer Raus“ hatte in den frühen 1960ern eine grüne Kunststoffhülle – und die heutige Version kommt, wovon ich mich gerade habe überzeugen dürfen, noch immer in einem kräftig grünen Pappschuber daher. Ob das „nur so eine komische“ Assoziation ist oder mehr, mag entscheiden, wer sich dazu berufen fühlt. Den Elferblock der grünen britischen Oktogone (SG 54-56) zu sehen und mich an die Kartenbox meiner Vorschul-Kindheit zu erinnern, war jedenfalls eins. Da einer der Elfer-Raus-Partner aus Kindertagen ein halbes Jahrhundert später in England lebt und die Briefmarken der neuen Heimat sammelt, ist jedenfalls nicht mehr als ein Zufall. Weniger zufällig ist, dass es mir selbstverständlich schien, ihn kürzlich während eines Telefonats eigens auf die spektakuläre britische Markeneinheit im Schwanke-Angebot anzusprechen. Das Telefonat ging, kaum geschönt, etwa folgendermaßen. Die Leitung war schlecht, es begann schon nicht vielversprechend, und es wurde dann übler. Charakteristische Auszüge:
„Oktogone? Ach, du meinst Preußen“
„Nein, nicht Preußen. Groß-bri-tan-ni-en, die 1 Schilling von 1847. Kennst Du doch.“
„Wie, nichts Besonderes? Im gestempelten Elferblock schon, oder?“
„Was? Vergiss doch mal Elfer Raus für einen Moment. Und hör zu: Ich sprach von ‚Elferblock’. 1 Schilling grün 1847. Elf Stück aus der Bogenecke.“
„Nein, rechte untere Ecke.“
„Allerdings.“
„Will ich doch hoffen.“
„Jaja, tadellos, wirklich eindrucksvoll. 1 Schilling grün!“
„Nein, nicht ‚schön’. Doch doch, das auch. Aber ich meinte grün, Grü-hün. Sieht aus wie ein arabischer Teppich oder portugiesische Kacheln. Nur schöner.“
Der Kollege ist halt nicht so flink. Aber wenn er mal was begriffen hat, ist er schnell Feuer und Flamme. Und er hat tatsächlich eine tolle GB-Sammlung. Der 11er-Block der 1 Sh. „Grühün“ würde dort prima hineinpassen.
Drin ist drin bleibt drin…
Manche sachlichen Fehler, die aus unerfindlichen Gründen einmal in den MICHEL-Katalog geraten sind, wirst du nicht mehr los. Vor allem dann, wenn sich für die Aufnahme ein womöglich längst verblichener Prüfer verbürgt hat. Drin ist drin bleibt drin! Egal, wem man schreibt; egal, mit wem man spricht. Nichts spricht derzeit dafür, dass es der von Schwanke als Los 150 angebotenen griechischen Ganzsache P54 anders ergehen könnte. Die Inlands-GA zu 10 Lepta von 1946 kam laut MICHEL aufgrund der Inflation nicht mehr zum Verkauf. Erst zehn Jahre später [mithin 1956] wurde sie als Formblatt postamtlich aufgebraucht.
Das in der Auktion angebotene, im Jahr 1947 bedarfsmäßig gebrauchte Exemplar mit aufwendiger Zusatzfrankatur und Militärzensur im Auslandsverkehr nach Hamburg – attestiert, versteht sich – widerlegt die Katalogweisheiten. Beachtung verdient allerdings die Absenderangabe: Das Athener Unternehmen „Paleologo“ betrieb seit 1946 die „Paleologos Shipping Agency“, die den Fährverkehr zwischen Griechenland und Italien bediente. Das mag dem Entstehen dieses Belegs förderlich gewesen sein.
10c. USA
Spektakuläre Teilgezähnte Abarten verstecken sich bisweilen, und es erfordert dann einigen Aufwand, sie sichtbar und philatelistisch glaubhaft zu machen. So erfordert beispielsweise das Erkennen von Wasserzeichen-Abarten oder Papierdicken-Varianten oder Markenfarbenunterschieden häufig einen beträchtlichen apparativen Einsatz. Die Feststellung und Identifikation von Zähnungsabarten stellt dagegen – sofern es sich nicht lediglich um geringfügig abweichende Zähnungsmaße handelt – im allgemeinen kein Problem dar. Ob eine Marke Zähne hat oder nicht, ob sie teilweise oder vollständig fehlen, ist in der Regel leicht festzustellen. „Der Sammler sollte zur eigenen Sicherheit“, so habe ich an dieser Stelle vor vier Jahren geraten, „darauf achten, Zähnungsabarten zu erwerben, bei denen die fehlende Zähnung zum Bogenrand hin (oder bei Markeneinheiten zwischen den Marken) liegt. In jedem Fall aber sollten die erhalten gebliebenen Markenränder so großzügig bemessen sein, dass der Verdacht, jemand habe sich mittels einer Schere der lästigen Zähnung entledigt, gar nicht erst aufkommt.“
Das sind jedoch bloß einige formale Kriterien, denen eine salonfähige Ungezähnte nachkommen sollte. Darüber hinaus ist es wenigstens nicht hinderlich, wenn die Marke in irgendeinem, individuell sicher variierenden Sinne als mindestens „attraktiv“, wenn nicht als „atemberaubend“ bezeichnet werden darf, und wenn sie außerdem nicht schon an jeder philatelistischen Ecke herumsteht.
Eine solche philatelistische Bordsteinschwalbe, die mit Jedem mitgeht, ist die als drittletztes Los der Schwanke-Specials offerierte amerikanische Wappen-Adler-Marke (Eagle and Flags) ganz sicher nicht. Schon ein normaler Einzelwert dieser 10 c. gelborange, 1869, der USA (Scott-Nr. 116, MiNr. 30) ist mehr als schlichte Alltagskost. MICHEL und SCOTT kennen nun aber überhaupt keine nennenswerten Besonderheiten dieser Marke, geschweige denn ein attraktives, oben ungezähntes Exemplar vom oberen Bogenrand mit Plattennummer „15“ und einem für US-Verhältnisse sauberen Target-Stempel, der zudem das Markenbild und den unperforierten Übergang von Marke zu Oberrand weitgehend freilässt. Optisch wäre dies auch ohne Abart und trotz der im Text erwähnten Erhaltungsmaßnahmen schon ein weit über dem Durchschnitt liegendes Stück. Mit der Zähnungsabart aber ist diese Marke sicher einzigartig. Mir ist von diesen US-Ausgaben nichts Vergleichbares bekannt.
Gerd H. Hövelmann