Ende der Bewußtlosigkeit – 10 Jahre später

Ende der Bewußtlosigkeit – 10 Jahre später

Gerd H. Hövelmann:

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Ein Briefmarkenauktionator2 erwacht nach einem Unfall aus langer und tiefer Bewusstlosigkeit. Seine philatelistische Kompetenz ist ihm ebenso erhalten geblieben wie sein prinzipieller Marktverstand. Ansonsten aber kann er sich an nichts mehr erinnern. Insbesondere nicht an die Entwicklungen des Briefmarken- und vor allem des Auktionsmarktes während seiner zehn Jahre währenden Ohnmacht.

Unser Auktionator – körperlich gesundet – wird nun ein paar Beobachtungen machen, die ihn erstaunen werden. Es sind dies Wahrnehmungen, die auch seinen gedächtnisstabileren Kollegen nicht verborgen geblieben sind, die sich ihm aber auf ganz andere Weise massiv und drängend darbieten, als jenen Auktionatoren, die die betreffenden Entwicklungen allmählich, Schritt für Schritt mitvollzogen haben.

Verwundert zur Kenntnis nehmen wird unser rekonvaleszenter Auktionator nun, erstens, dass wirklich ausgefallene, exemplarisch seltene oder aussagekräftige Stücke von zweifelsfreier Qualität bisweilen Preise erzielen, die er sich zu Zeiten vor etwa einem Jahrzehnt, an die er sich noch zu erinnern vermag, selbst in kühneren Momenten kaum ausgemalt hätte. Er schließt daraus, nicht ohne Berechtigung, dass in der Sammlerschaft für Marken und Briefe der beschriebenen Art inzwischen fast beliebige Geldmittel zur Verfügung stehen.

Dies stimmt ihn hoffnungsvoll – doch das gibt sich schnell. Denn er stellt zweitens fest, dass die aktuellen Auktionskataloge, die er studiert – einschließlich seines eigenen, an dessen Erstellung er sich partout nicht mehr erinnern kann –, einen beunruhigenden Prozentsatz an Ware enthalten, dessen Einlieferung er sich so (oder überhaupt) vor einem Jahrzehnt noch verbeten hätte. Dies kann er sich, da ja sein Marktverstand unbeschadet ist, nur auf zweierlei Weisen erklären: Entweder seine sammelnden Kunden gelüstet es außer nach qualitätsvoller, gutpreisiger Spitzenware auch noch nach halbwegs auktionabler Standardware, nach Massenware oder überteuerter Händlerware, was in der angebotenen Menge offenkundig absurd wäre. Oder aber seine Kollegen (und er selbst) haben diese Ware nur akzeptiert, um überhaupt Angebot und Umsatz in gewohntem Umfang aufrecht erhalten zu können.

Die dritte Beobachtung unseres Auktionators wird diese Frage entscheiden müssen: Er bemüht sich um neue Einlieferungen und spricht zu diesem Zweck bekannte Kunden an, von denen er weiß, dass sie wertvolle Sammlungen besitzen. Seine Erfahrungen sind mehrheitlich ernüchternd. „Ich würde Ihnen meine Sammlung ja gerne zur Versteigerung übergeben. Aber, seien Sie ehrlich, soll ich mir den Erlös für nullkommanichts Prozent auf die Bank legen? Wenn das so weiter geht, wird es nicht mehr lange dauern, bis ich zusätzliches Geld mitbringen muss, damit die Bank meine Einlage überhaupt anzunehmen geruht. Da behalte ich doch lieber meine Sammlung.“ Dieses und Ähnliches bekommt er ein ums andere Mal zu hören.

Das Briefmarkengeschäft, so wird unser mittlerweile schon wieder etwas benommener Auktionator folgern, ist beträchtlich schwieriger und weniger einträglich geworden als früher. Andeutungen einer Besserung, eines Durchstartens sind allenfalls vage. Damit das nicht so bleibt, sind alle Marktteilnehmer, Auktionatoren, wie auch Händler und Prüfer, in der Pflicht. Denn auch dem Sammler geht es nur gut, wenn es dem Handel gut geht.

Mit einem zeitigen Erwachen aus der Bewusstlosigkeit wäre Vielen geholfen. Aber wer traut sich, zum Wecken zu läuten?


1Eine frühere Fassung dieses Textes erschien vor recht genau einem Jahrzehnt unter dem Titel „Gastkommentar: Ende der Bewußtlosigkeit“ in Heft 2/2005, S. 6, der Deutschen Briefmarken-Zeitung. Es ist ein Maß für die Trägheit, ja Unbeweglichkeit des Markenmarktes, dass nach zehn Jahren kaum eine Aktualisierung erforderlich ist. Die grundsätzliche Diagnose ist im Wesentlichen unverändert, allenfalls düsterer.

2Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind nicht zufällig, sondern beabsichtigt. Reiner Zufall – glauben Sie es mir – ist hingegen der Umstand, dass im ursprünglichen wie im heutigen Text von einer zehn Jahre währenden Unpässlichkeit unseres Auktionators die Rede ist, während auch die beiden Texte genau ein Jahrzehnt voneinander trennt. Psychoanalytisch oder numerologisch geschulte Leser werden sich von meinem Dementi kaum beschwichtigen lassen. Und ich kann es niemandem verwehren, der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen.