Rares und Kurioses (4)

– Unser Autor Gerd H. Hövelmann kommentiert –

Die schönsten Auktionskataloge…

…waren schon immer diejenigen, in denen den kundigen Betrachter nicht unbedingt bei jedem Umblättern sogleich eine Katalograrität anspringt (obgleich auch das nicht ausgeschlossen werden soll), sondern jene, bei denen auf fast jedes Blättern ein Innehalten folgt, ein nicht unbedingt erwarteter Moment der Aufmerksamkeit, der vom sofortigen weiteren Umschlag der Seiten abhält. Verantwortlich dafür ist beispielsweise ein Stück, das den Blick fesselt, weil es hinreißend schön oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich ist – sogar ohne dass man im ersten Moment genauer zu sagen wüsste, warum, und das, eben deshalb, den geschwinden Katalogsichtungsblick stocken lässt und zur genaueren Betrachtung und möglicherweise dann auch zu praktischem Handeln animiert.

Eine solche Art der unaufdringlichen, aber wirksamen Präsentation haben wir mit dem aktuellen Hauptkatalog zur 351. Schwanke-Auktion vor uns, die der Auflösung der Sammlung „Deutsche Postgeschichte“ des Hamburger Sammlers Jürgen Meinert gewidmet ist. Ich erlaube mir, einige Beispiele herauszustellen, die das vorstehend Gesagte illustrieren mögen.

Doch, doch, ein blauer Brief!

Zunächst einmal darf der Autor sich – kurzzeitig wenigstens – der Illusion hingeben, dass der Auktionator die folgenden beiden Briefe speziell für ihn beschafft und angeboten habe: Denn in der vorigen Folge von „Rares und Kurioses“ hatte der Verfasser vor einigen Wochen wenn nicht beklagt, so doch bedauert, dass die „blauen Briefe“ seiner Jugend alles andere, aber eben nicht blau gewesen seien. Obwohl dem mutmaßlich keine Absicht zugrundelag (aber wer weiß das schon?), wird es diesseits als eine besondere Freundlichkeit empfunden, dass der Auktionator mit Los-Nummer 146 für wirklich geringes Geld zwei Exemplare der berühmten tiefdunkelblauen Umschläge der Berliner Cabinetts-Expedition aufgeboten hat. Und was der Auktionator garantiert nicht wusste: Der Verfasser besaß vor rund 35 Jahren selbst eine kleine Spezialsammlung dieser auffälligen preußischen Postkuverts, aus denen sich fast immer auch irgendeine postgeschichtliche Einsicht gewinnen lässt.

Bayern-Paketkarte via Singapur nach Bangkok

Eines der „großen“ Stücke der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert ziert die Titelseite des Schwanke-Katalogs. Es handelt sich, auch wenn sie eher unterschwellig auf sich aufmerksam macht, um eine wirklich seltene Paketkarte. Sie ist nach Siam adressiert, zu jener Zeit (1907) für einen deutschen Aufgabeort (anders als für einen britischen) noch eine extrem seltene Destination. Dieses bedeutsame postgeschichtliche Dokument ist mit einem senkrechten Paar der bayerischen 3 Mark olivbraun (MiNr. 69x plus rückseitiger Zusatzfrankatur) tarifgerecht freigemacht. Für gerade einmal 500 Euro Ausruf ist das sicher eine Sünde wert…

Schönheit in der Straßenbahn

Kennen Sie das? Sie sehen irgendwo in der Öffentlichkeit, in einer Straßenbahn zum Beispiel, eine Person, die mit ihrer augenfälligen Schönheit unmittelbar Ihren Blick verzaubert. Sie sehen die Person nur für einen flüchtigen Moment, gerade lange genug, um zu erkennen, dass auch Sie vom Gegenüber bemerkt worden sind und interessiert betrachtet werden. Jahre vergehen. Sie sehen diese Person niemals wieder – aber es gibt kaum einen Tag, an dem Sie nicht an sie denken. Nicht nur, aber auch in Straßenbahnen soll dergleichen tatsächlich geschehen.

Nebenbei beobachtet: Ich hatte unlängst die Gelegenheit und Aufgabe, einer akademischen Abschlussarbeit im Fach Management Studies sprachlich auf die Beine zu helfen. Es handelte sich um eine Machbarkeits- und Finanzierbarkeits-Studie für die Neu-Einführung einer projektierten Straßenbahn in einer deutschen Kleinstadt. Ein zumindest auf den zweiten Blick recht spannendes Projekt, das auch die eine oder andere nostalgische Betrachtung angeregt hat. Die gleichzeitige Wiedereinführung einer Straßenbahnpost mit allem Drum und Dran ist freilich in die Kalkulationen nicht mit eingegangen.Auf diesen kurzen, melodramatischen Gedankengang bringt mich ein kleines Spezialangebot dieser Auktion, das Hamburger „Straßenbahnpost“ in den Mittelpunkt stellt. Bei der Straßenbahn aufgegebene und mit einem solchen Gefährt beförderte Postsendungen, sind ausgesprochen gesucht, eben weil sie das Alltägliche hinter sich lassen. Bei postgeschichtlichen Spezialauktionen sind sie stets hochwillkommen und – sofern qualitativ gut erhalten und einigermaßen moderat ausgepreist – sichere Verkaufskandidaten. Zwei oder drei Exemplare in einer Auktion sind schon eher ungewöhnlich. Aus der bemerkenswerten Postgeschichts-Sammlung Meinert stehen nun aber nicht weniger als acht einschlägige thematische Lose zur Verfügung, die gemeinschaftlich mehr als stolze 70 Straßenbahnbelege in den Auktionswettbewerb führen. Die Schätzwerte für individuelle Belege und Partien sind kaum der Rede wert, vielmehr so bemessen, dass für den Nachverkauf nichts übrig bleiben sollte. Dabei ist für im Postverkehr überdurchschnittlich beanspruchte Belege dieser Art die Qualität der meisten offerierten Stücke beeindruckend gut. Schönheiten eben.

Moderiertes Porto zu moderater Schätzung

Unter „moderiertem Porto“ versteht der kundige Postgeschichtler eine Postfreimachung zu ermäßigter Gebühr – möglich beispielsweise bei der Schweiz, mehreren altdeutschen Postverwaltungen und etlichen weiteren Länderposten – unter der Voraussetzung, dass eine vorgegebene Anzahl (etwa 25, 50, 100) gleichartiger Sendungen zur selben Zeit aufgegeben werden. Eine solche „Portomoderation“ (mit oder ohne zusätzliche Stempelkennzeichung) ist fast immer recht selten und wird heute in aller Regel gut honoriert. Ein ganz besonderer, in dieser Form möglicherweise einmaliger Portomoderationsbeleg ist jedoch der hier gezeigte Hannover-Brief mit einem waagerechten Paar der MiNr. 6 (ein moderiertes Porto zu 6 Pfg. für die Strecke von Harburg ins dänische Altona). Es handelt sich um die bisher einzige bekannte Portomoderation auf dieser Strecke, die ja zudem ins Ausland ging. Der Brief war noch nie auf einer Auktion, ist aber keine Neuentdeckung, da er schon 1998 von der Arbeitsgemeinschaft Hannover (R. Heitling) ausführlich beschrieben wurde. Ausruf: 1500 Euro.

„Stettiner Zipfel“

Es klingt nach dem unglücklichen Ende einer Wurstpelle, und rein „phänomenologisch“ ist dies auch nicht so ganz verkehrt. Ein „Powiat“ entspricht in Polen grob einem deutschen Landkreis. Der „Powiat Policki“ ist ein Powiat im Nordwesten der polnischen Woiwodschaft Westpommern, der flächenmäßig der kleinste der Woiwodschaften ist (falls ein solcher Plural statthaft ist). Im Norden grenzt er an das Stettiner Haff, im Westen an den deutschen Landkreis Vorpommern-Greifswald, im Süden in Pargow an die Oder, im Osten an die Stadt Stettin, dann abermals an die Oder in Pölitz und an den polnischen Landschaftsschutzpark Unteres Odertal (Park Krajobrazowy Dolina Dolnej Odry).

Der Powiat Policki befindet sich damit fast vollständig auf dem (heute) polnischen Gebiet des historischen Vorpommern. Im Sprachgebrauch der nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertriebenen deutschen Bevölkerung wird er deshalb auch als „Stettiner Zipfel“ bezeichnet. Post von dort aus der unter vielfältigen Beschränkungen leidenden frühen Nachkriegszeit hat in sehr vielen Fällen den Charakter von Provisorien – mit allen Sorten von Notmaßnahmen (Barfrankaturen, einer einfallsreichen Fülle an Nebenstempeln, handschriftlichen Vermerken) derer Postbedienstete sich bei solchen Gelegenheiten zu bedienen pflegen. Aus diesem „zipfeligen“ Stettiner Sondergebiet bietet die Auktion ein halbes Dutzend attraktiver, zeittypischer Lose mit teils mehreren Belegen. Dass der Gesamtschätzwert für diese Positionen kaum über 1000 Euro liegt, darf man getrost als freundliche Geste verstehen.

Saarität

Die erste Ganzsachenkarte (P 1I) aus dem Saargebiet ist durch den Aufdruck SAARGEBIET auf einer Urkarte 10  Pfg. Germania des Deutschen Reiches entstanden. Üblicherweise diente als Urkarte für diese Maßnahme die Ganzsache P 107. Allenfalls sehr wenige solcher Aufdrucke sind auch auf der älteren, aber sehr ähnlich aussehenden 10-Pfg.-Karte P 74 vorgenommen worden – zweifellos ein Versehen, das möglicherweise sogar einmalig war, denn wie das Fotoattest von Alfred Burger (nicht „Brugger“, wie es in der Losbeschreibung versehentlich heißt) feststellt, handelte es sich zum Prüfzeitpunkt (1982) um „die einzige mir bekannte Urkarte ‚DR Nr. P 74‘)“. Sollte diese Einschätzung auch heute noch Gültigkeit haben, dann hätten wir hier ein Unikat vor uns! Daran gemessen sind 800 Euro Ausruf „kleines Geld“.

Zu guter Letzt…

…verdient ein ausgemachtes Highlight der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert gesonderte Hervorhebung: eine rekommandierte Ortspostkarte von HAMBURG / HAMM-HORN, frankiert mit der Stadtpostmarke MiNr. 24 des Norddeutschen Postbezirks in äußerst seltener Mischfrankatur mit den Brustschild-Marken MiNrn. 1 und 19 – diese Karte wird erstmals auf einer Auktion angeboten. Ihre Seltenheit in der vorliegenden Form muss NDP-, Brustschild- und Hamburg-Sammlern nicht eigens erläutert werden. Dem Rest darf ich immerhin versichern, dass mir bisher keine Handvoll ähnlicher Stücke untergekommen ist.

Gerd H. Hövelmann