Rares und Kurioses (6)

Sieh nur, wie ich schwanke, Schwanke!

Never make fun on a name!“, lautet eine der eisernen Regeln für jeden Autor, der ernst genommen werden möchte. Jahrzehntelang habe ich mir in dieser Hinsicht nichts zu Schulden kommen lassen. Heute aber erlaube ich mir, ausnahmsweise ein wenig über die Stränge zu schlagen, denn selten war die Verlockung so groß; eine Verlockung aber, für die ich wiederum jede Verantwortung von mir weisen muss.

Schuld ist vielmehr der launige Entwerfer eines kuriosen Briefmarken-Motivs: jener letzten „überlebenden“, obwohl noch nicht einmal amtlich verausgabten Marke der (heute) brasilianischen Provinz ACRE. Das spektakuläre Markenbild gibt der allgemeinen Aufmerksamkeit u.a. eine tanzende, jauchzende und eben bedenklich schwankende Schildkröte als auffälligstes von mehreren Utensilien eines regional bedeutungsträchtigen, ja dokumentarischen Motiv-Inventars preis. Da wir einer biederen Schildkröte keine unmäßige Neigung zum Alkohol unterstellen möchten, können wir nur vermuten, dass sie sich an einigen der lokal reichlich verbreiteten halluzinogenen Pilze gütlich getan haben muss. Wie sonst sollten wir uns dieses luftig dahintänzelnde Reptil plausibel machen? Gewiss, es gibt lokale Erzähltraditionen. Wir aber stellen uns lieber einen verschmitzten, bestens gelaunten Marken-Designer vor und bekunden ihm unsere Anerkennung für „the funniest stamp design ever“.

Auktionator Hans-Joachim Schwanke selbst hat sowohl in seiner Auktionsvorschau als auch in seiner Losbeschreibung bereits alles faktisch Sagens- und Wissenswerte über die charmante „tanzende Schildkröte“ von ACRE mitgeteilt – jedenfalls soweit es die Philatelie, die internationale Postgeschichte und die Entstehungsbedingungen dieses enorm seltenen Zeugnisses lateinamerikanischer Kultur und Markenkunst betrifft. Dazu habe ich nichts Prinzipielles mehr beizusteuern – es sei denn, wir dürften uns angesichts dieses äußerst ungewöhnlichen Markenbildes eine weitere Ausschweifung erlauben.

Lassen Sie mich also fragen: Hat unsere Schildkröte vielleicht auch noch weitere kulturelle Spuren hinterlassen? Ich frage nur, ich behaupte nichts. Aber wie haben wir uns all die Jahre gewundert, wie die Zeichner Kevin Eastman und Peter Laird damals (1984 war’s) nur auf den abstrusen, gar nicht offenkundig lustigen Gedanken verfallen sind, Schildkröten in traditionell asiatische, aber schildkrötgrün eingefärbte Ninja-Kostüme zu zwängen, ihnen Schwerter umzubinden und sie ferner den bipeden (d.i. zweifüßigen), aufrechten Gang zu lehren. Erst jetzt, angesichts der nicht einmal amtlich gewordenen Marke von ACRE, liegt der motivliche Urgrund für die Comic-Serie offen zutage. Oder haben Sie jemals eine Schildkröte beobachtet, die sich ohne zusätzliche Stütze nicht nur auf die Hinterbeine stellt, sondern stabile Tanzschritte ausführt? Irgendwann und irgendwo müssen die Zeichner – vielleicht, vielleicht – eines von kaum einem halben Dutzend Exemplaren der Marke, die die Zeitläufte überdauert haben, zu Gesicht bekommen haben. Daraus haben sie dann, so fantasiere ich es mir freihändig zurecht, erfolgreich und letztlich kinotauglich Comics und Filmdrehbücher entwickelt. Aus so einer starken Voraussetzung erklärt sich für mich zwanglos die Erfindung und Existenz der nervigen Ninja Turtles.

Damit zurück zum Ernst des Lebens und der Philatelie. Die Wirkkraft eines bildlichen Motivs – so meine These – wächst mit der Zahl der Geschichten, Historien und Fantasien, die sich mit diesem Motiv verknüpfen lassen. Auch in dieser Hinsicht kann sich die tanzende Schildkröte von ACRE wirklich sehen lassen: Ich könnte aus dem Stand ein halbes Dutzend Geschichten erfinden und sie mit ihr in Verbindung bringen. Der Kulturwissenschaftler bezeichnet ein so deutungsvariables Objekt als „mythogen“ – als ein Objekt also, das ohne viel Federlesens seine eigenen, interkulturell verständlichen Mythen hervorbringen kann. Dass das auch unserer tanzenden Schildkröte gelungen sein könnte, ist mittelfristig vielleicht sogar eines der besten Argumente für den Erwerb dieser Marke als eines folgenträchtigen kulturhistorischen Dokuments. Abschließend möchte ich eine gewisse Bewunderung für die verrückte Idee des Markenentwerfers nicht verbergen: eine tänzelnde, sich biped auf den Hinterbeinchen fortbewegende Schildkröte wäre, falls authentisch, eine evolutionsbiologische Sensation, die ihren Entdeckern unvergänglichen Ruhm bescheren würde.

Ist der erste Gedanke immer der beste?

Dass angesichts eines Problems oder einer Fragestellung der erste Gedanke stets der beste sei, wird häufig und in überzeugter Tonlage behauptet. Die folgende Schilderung lässt daran allerdings Zweifel aufkommen; sie fällt im übrigen unter die Rubrik “Wahre Geschichten, die einem doch keiner glaubt”. Nicht nur auf Briefmarken und Briefe, ist sie ohne weiteres anwendbar. Die „Moral von der G’schicht“ lesen Sie am Ende dieses Abschnitts.

Das Vanille-Auto

Folgende Lehrgeschichte habe ich vor ein paar Jahren aus den USA mitgebracht. Was sie mit Philatelie zu tun hat, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. Ob die Geschichte tatsächlich wahr ist (wie versichert wird) oder nur klug erfunden, ist nicht von Belang.

Der Präsident der Automobil-Firma Pontiac (heute Teil von General Motors) erhielt einen Beschwerdebrief. Dieser hatte (in meiner Übersetzung) den folgenden Wortlaut:

„Ich schreibe Ihnen nun schon zum zweiten Mal. Ich kann es Ihnen aber nicht wirklich verdenken, dass Sie mir bisher nicht geantwortet haben, denn meine Geschichte klang wohl ziemlich verrückt. Es ist jedoch eine Tatsache, dass wir nach alter Familientradition jedes Abendessen mit einem Eiskrem-Dessert beschließen. Die Eissorte wechselt täglich. Wir stimmen jeweils darüber ab, und ich fahre dann zum Eis-Café, um das Eis zu kaufen. Außerdem müssen Sie wissen, dass wir kürzlich einen neuen Pontiac gekauft haben. Seitdem bereiten meine Wege zur Eisdiele jedoch ernste Probleme. Sehen Sie, jedesmal wenn ich Vanille-Eis kaufe und ich mich auf den Rückweg machen will, springt mein Auto nicht mehr an. Kaufe ich eine beliebige andere Eissorte, macht das Auto keine Probleme. Sie sollten verstehen, dass mir diese Anfrage ganz ernst ist, so unsinnig sie auch klingen mag. Also – was ist los mit meinem Pontiac, der nicht startet, wenn ich Vanille-Eis kaufe, der aber sofort anspringt, wenn ich eine andere Eissorte oder irgendetwas anderes kaufe?

Der Pontiac-Präsident war angesichts dieses Briefes verständlicherweise ein wenig irritiert, schickte aber dennoch einen lokalen Techniker des Unternehmens vorbei. Dieser war angesichts der bisherigen Geschichte erstaunt, auf einen geschäftlich erfolgreichen, stockseriösen und offenbar gebildeten Klienten in einer guten Wohngegend zu treffen. Er hatte sich mit ihm für die Zeit gleich nach dem Abendessen bei der Eisdiele verabredet. Die Familie hatte für Vanille-Eis gestimmt und, klar, als sie zum Auto zurückkamen, versagte dieses den Dienst. Der Pontiac-Techniker fand sich auch in den folgenden drei Tagen wieder ein. Am ersten Abend kaufte er Schokoladen-Eis – kein Problem mit dem Anlasser. Am zweiten Abend wählte er Erdbeer-Eis – der Wagen sprang sofort an. Vanille-Eis gab es am dritten Abend – das Auto rührte sich nicht.

Natürlich glaubte der Techniker, ein logisch denkender Mann, keinen Moment daran, dass das Auto allergisch auf Vanille-Eis reagieren könnte. Er besuchte die Familie daher auch in den folgenden Tagen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Er erhob (und variierte) umfangreiches Datenmaterial: Tageszeit, Art des getankten Benzins, Fahrzeiten hin und zurück usw. Mit der Zeit fiel der Groschen, als er bemerkte, dass er weniger Zeit für den Kauf von Vanille-Eis als für den Erwerb der anderen Eissorten brauchte. Nicht das Eis und nicht das Auto waren das Problem, sondern allein die Anordnung der Eissorten in der Eisdiele. Vanille, die beliebteste Geschmacksrichtung, wurde wegen der großen Nachfrage direkt am Eingang des Ladens ausgegeben, alle anderen Sorten weiter hinten. Dort das richtige Eis auszuwählen, zu zahlen und den Laden wieder zu verlassen, dauerte beträchtlich länger. Damit aber verschob sich die Logik der technischen Frage: von der Frage nämlich nach einem Zusammenhang zwischen Eissorte und Startverhalten zu der Frage nach der für den Eiskauf insgesamt erforderlichen Zeit und der zwischenzeitlichen Abkühlung des Pontiac-Motors. Dampfblasenbildung [„Vapor Lock“] erwies sich schließlich als die richtige, ganz „eisfreie“ Beschreibung des tatsächlichen technischen Problems.

Als die vorhin versprochene „Moral von der G’schicht“, die schon für das Alltagsleben gilt, aber gerade dem Sammler besonders ans Herz gelegt sei, dürfen wir festhalten:

  • Erster Merksatz: Nicht immer ist der erste Gedanke der richtige.
  • Zweiter Merksatz: Auch, was offensichtlich scheint, ist nicht immer wahr.
  • Dritter Merksatz: Ganz gleich, wie verrückt die Beantwortung einer Frage oder die Lösung eines Problems klingen mögen, sie könnten dennoch zutreffen.
  • Vierter Merksatz: Eine Tatsache, wie unplausibel sie auch immer sein mag, ist eine Tatsache.

Mit dieser Vierfach-Moral bin ich (nicht nur) auf dem Briefmarkenmarkt stets gut gefahren. Allerdings bin ich noch die Erklärung schuldig, was genau mich dazu veranlasst hat, die vorstehende Geschichte zu erzählen und gar eine Serie von Merksätzen aus ihr abzuleiten. Es war das Los Nr. 616 der aktuellen Schwanke-Auktion: Diese Ersttagsstempel könnten nie und nimmer echt sein, war mein erster Gedanke – noch bevor ich die Losbeschreibung so recht wahrgenommern hatte – angesichts der Abbildung der beiden wertentscheidenden Marken aus Österreichs Vogelsatz des Jahres 1953. Das einzig Falsche war hier jedoch meine spontane Vermutung: Ein aktueller Fotobefund des österreichischen Prüfers Soecknick bestätigt dagegen: „Echt und einwandfrei“.

Toller Vogel

Die berühmte Basler Taube ist nicht nur – aber das ist eine Geschmacksfrage – eine der schönsten und beliebtesten Briefmarken der Philatelie-Geschichte. Sie ist außerdem auch die erste mehrfarbige Briefmarke der Welt, ferner eine der frühesten mit partiellem Prägedruck. Zudem – und deshalb vor allem verweise ich auf sie – ist sie soeben 170 Jahre alt geworden; ihr amtlicher Ersttag war der 1. Juli 1845. Eines der Qualitätsmerkmale, die man für eine Basler Taube in Ansatz bringen kann, ist das vollständige Vorhandensein intakter, nicht ergänzter weißer Markenränder. Dieses Kriterium ist bei dem hier gezeigten Exemplar aus der aktuellen Schwanke-Auktion durchaus erfüllt, auch wenn der untere Rand vielleicht ein wenig knapper ausgefallen ist als wünschenswert. Ich hatte unlängst die willkommene Gelegenheit, ein wenig zu den Vorbereitungen einer Jubiläumsausstellung zur Basler Taube in der Schweiz beizutragen, und ich hatte in diesem Zusammenhang einige der besten und außergewöhnlichsten „Täubchen“ zu sichten. Ich habe daher eine recht gute Vorstellung davon, wie wenige dieser seltenen Marken sich heute noch in guter bis wenigstens akzeptabler Erhaltung präsentieren. Das hier gezeigte Stück zählt – soweit denn ein Photo der Markenvorderseite überhaupt eine Einschätzung zulässt – zweifellos zu den schöneren der ohnehin nur wenigen erhaltenen ungebrauchten Exemplare. Eine Basler Taube in solcher oder vergleichbarer Erhaltung ist immer eine Augenweide.

Luftpostmarken aus dem fernen Osten

Falls und insofern Seltenheit ein relevantes Kriterium ist, hat die Luftpostausgabe Wladiwostok-Spassk aus der russischen Republik des Fernen Ostens als komplette Serie mit insgesamt 19 Werten (einschließlich vier geschnittener Marken und der drei bekannten Werte mit kopfstehenden Aufdrucken), allesamt postfrisch erhalten, den Liebhabern des Seltenen und Ausgefallenen wahrhaftig etwas zu bieten. Beachtung verdient nicht nur, dass die MICHEL-Katalogisierung keine Postfrisch-Notierungen für diese Marken kennt, sondern auch, dass Aufdruckkopfsteher der Katalogredaktion bisher noch nicht einmal zur Kenntnis gekommen sind. Bei Auflagen je Marke, die lt. MICHEL „zwischen 25 und 27 Stück“ liegen, ist eine Preisschätzung ab 15.000 Euro für diesen exklusiven Bestand sicher nicht übertrieben.

Auf den Kopf gestellt: Marken mit kopfstehenden Bildteilen

Briefmarken mit Bildteilen, die relativ zu allen anderen Elementen auf dem Kopf stehen, gehören zum Spektakulärsten, was die Philatelie überhaupt zu bieten hat. Es gibt sie zwar aus fast allen Sammelgebieten, was die Anlage variantenreicher Kollektionen prinzipiell möglich macht; doch zählen die individuellen Stücke oft zum Seltensten, was die betreffenden Sammelgebiete überhaupt zu bieten haben: Man denke an die „Inverted Jenny“ und die an der Decke fahrenden Eisenbahnen und Schiffe (alle USA), die kopfstehenden Wiener Parlamentsgebäude (Österreich, siehe Los-Nrn. 119 und 578), Ungarns „kopfstehende Madonna“ oder Guatemalas kopfstehender Quetzal (siehe die Lose Nrn. 128-130) und viele weitere Beispiele. Bildmittelstücke, Rahmen, Auf- oder Unterdrucke, alles kann im Briefmarkendruck auf dem Kopf stehen, solange es nur in einem anderen Druckgang als die übrigen Elemente des Markenbildes hergestellt worden ist. Nicht weniger als 23 Positionen (Lose 116-137, 578) solcher Art kann die Schwanke-Auktion diesmal vorweisen.

Lukrative Drei- und Viertausender

Nein, nein, nicht von alpinen Klettereien ist hier die Rede (Gott bewahre!). Vielmehr möchte ich Ihnen abschließend noch ein paar interessante Einzelstücke ans Herz legen, die allesamt mit einer Schätzwertvorgabe von 3000 bzw. 4000 Euro in die Schwanke-Auktion gehen. Der bloße Schätzwert ist freilich kein philatelistisches Kriterium, sehr wohl aber ein wissenswertes und praktisch handhabbares. Hinweisen möchte ich aus diesem Preisbereich beispielsweise auf eine wundervolle, literaturbekannte Mehrfachfrankatur der preußischblauen hamburgischen 3 Sch. (MiNr. 15b) auf Drucksache nach New York (Los 6) und auf eines der wenigen erhalten gebliebenen Stücke der sog. Helgoländer „Pilger-Karte“.

Spektakulär ist auch das Spezialangebot einiger Block-Abarten deutscher Sammelgebiete –von einem ungezähnten postfrischen Block 6U des Deutschen Reiches (Los 27) bis hin zu einem ungezähnten Widerstandskämpfer-Block der Bundespost (Los 35) und Saar-Block 2FU postfrisch ohne Markendruck (Los 36). Verlockend scheinen auch eine sehr schöne MiNr. 13 Oldenburgs vom Oberrand auf Luxusbrief mit kontrastreichem blauen Stempel (Los 12), ein knappes Dutzend Ganzsachen-Raritäten der SBZ-Bezirkshandstempelaufdrucke aus dem Bestand Helmuth Messmers (Lose 40-50), Luxusstücke der dänischen MiNr. 2 I und der finnischen MiNr. 1 II je auf Briefen (Lose 63-64), ein postfrisches Randstück von Islands MiNr. 15 B (Los 71), eine ungebrauchte Zähnungsrarität MiNr. 100 B von Liechtenstein (Los 498), ein gestempelter Viererblock der 6 Crazie dunkelblau (MiNr. 15) der Toscana (Los 74), Norwegens erste Briefmarke ungebraucht sowie zwei qualitätsvolle Norwegen-Frankaturen (Lose 77-79), ein guter „rosa Merkur“ Österreichs (Los 80), eine ideale gestempelte schwedische Nr. 1 (Los 83), der Schweizer Farbfehldruck Nr. 203 z (Rot statt Violett; Los 89), die MiNrn. 9, 10 und 16 von Hawaii in beachtlichen ungebrauchten Einheiten (Lose 94-96) sowie kuriose, kaum jemals angebotene Marken, Briefstücke und ein Brief der entlegenen Clipperton Islands (Lose 113-115).

Gerd H. Hövelmann