Rares und Kurioses (4)

– Unser Autor Gerd H. Hövelmann kommentiert –

Die schönsten Auktionskataloge…

…waren schon immer diejenigen, in denen den kundigen Betrachter nicht unbedingt bei jedem Umblättern sogleich eine Katalograrität anspringt (obgleich auch das nicht ausgeschlossen werden soll), sondern jene, bei denen auf fast jedes Blättern ein Innehalten folgt, ein nicht unbedingt erwarteter Moment der Aufmerksamkeit, der vom sofortigen weiteren Umschlag der Seiten abhält. Verantwortlich dafür ist beispielsweise ein Stück, das den Blick fesselt, weil es hinreißend schön oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich ist – sogar ohne dass man im ersten Moment genauer zu sagen wüsste, warum, und das, eben deshalb, den geschwinden Katalogsichtungsblick stocken lässt und zur genaueren Betrachtung und möglicherweise dann auch zu praktischem Handeln animiert.

Eine solche Art der unaufdringlichen, aber wirksamen Präsentation haben wir mit dem aktuellen Hauptkatalog zur 351. Schwanke-Auktion vor uns, die der Auflösung der Sammlung „Deutsche Postgeschichte“ des Hamburger Sammlers Jürgen Meinert gewidmet ist. Ich erlaube mir, einige Beispiele herauszustellen, die das vorstehend Gesagte illustrieren mögen.

Doch, doch, ein blauer Brief!

Zunächst einmal darf der Autor sich – kurzzeitig wenigstens – der Illusion hingeben, dass der Auktionator die folgenden beiden Briefe speziell für ihn beschafft und angeboten habe: Denn in der vorigen Folge von „Rares und Kurioses“ hatte der Verfasser vor einigen Wochen wenn nicht beklagt, so doch bedauert, dass die „blauen Briefe“ seiner Jugend alles andere, aber eben nicht blau gewesen seien. Obwohl dem mutmaßlich keine Absicht zugrundelag (aber wer weiß das schon?), wird es diesseits als eine besondere Freundlichkeit empfunden, dass der Auktionator mit Los-Nummer 146 für wirklich geringes Geld zwei Exemplare der berühmten tiefdunkelblauen Umschläge der Berliner Cabinetts-Expedition aufgeboten hat. Und was der Auktionator garantiert nicht wusste: Der Verfasser besaß vor rund 35 Jahren selbst eine kleine Spezialsammlung dieser auffälligen preußischen Postkuverts, aus denen sich fast immer auch irgendeine postgeschichtliche Einsicht gewinnen lässt.

Bayern-Paketkarte via Singapur nach Bangkok

Eines der „großen“ Stücke der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert ziert die Titelseite des Schwanke-Katalogs. Es handelt sich, auch wenn sie eher unterschwellig auf sich aufmerksam macht, um eine wirklich seltene Paketkarte. Sie ist nach Siam adressiert, zu jener Zeit (1907) für einen deutschen Aufgabeort (anders als für einen britischen) noch eine extrem seltene Destination. Dieses bedeutsame postgeschichtliche Dokument ist mit einem senkrechten Paar der bayerischen 3 Mark olivbraun (MiNr. 69x plus rückseitiger Zusatzfrankatur) tarifgerecht freigemacht. Für gerade einmal 500 Euro Ausruf ist das sicher eine Sünde wert…

Schönheit in der Straßenbahn

Kennen Sie das? Sie sehen irgendwo in der Öffentlichkeit, in einer Straßenbahn zum Beispiel, eine Person, die mit ihrer augenfälligen Schönheit unmittelbar Ihren Blick verzaubert. Sie sehen die Person nur für einen flüchtigen Moment, gerade lange genug, um zu erkennen, dass auch Sie vom Gegenüber bemerkt worden sind und interessiert betrachtet werden. Jahre vergehen. Sie sehen diese Person niemals wieder – aber es gibt kaum einen Tag, an dem Sie nicht an sie denken. Nicht nur, aber auch in Straßenbahnen soll dergleichen tatsächlich geschehen.

Nebenbei beobachtet: Ich hatte unlängst die Gelegenheit und Aufgabe, einer akademischen Abschlussarbeit im Fach Management Studies sprachlich auf die Beine zu helfen. Es handelte sich um eine Machbarkeits- und Finanzierbarkeits-Studie für die Neu-Einführung einer projektierten Straßenbahn in einer deutschen Kleinstadt. Ein zumindest auf den zweiten Blick recht spannendes Projekt, das auch die eine oder andere nostalgische Betrachtung angeregt hat. Die gleichzeitige Wiedereinführung einer Straßenbahnpost mit allem Drum und Dran ist freilich in die Kalkulationen nicht mit eingegangen.Auf diesen kurzen, melodramatischen Gedankengang bringt mich ein kleines Spezialangebot dieser Auktion, das Hamburger „Straßenbahnpost“ in den Mittelpunkt stellt. Bei der Straßenbahn aufgegebene und mit einem solchen Gefährt beförderte Postsendungen, sind ausgesprochen gesucht, eben weil sie das Alltägliche hinter sich lassen. Bei postgeschichtlichen Spezialauktionen sind sie stets hochwillkommen und – sofern qualitativ gut erhalten und einigermaßen moderat ausgepreist – sichere Verkaufskandidaten. Zwei oder drei Exemplare in einer Auktion sind schon eher ungewöhnlich. Aus der bemerkenswerten Postgeschichts-Sammlung Meinert stehen nun aber nicht weniger als acht einschlägige thematische Lose zur Verfügung, die gemeinschaftlich mehr als stolze 70 Straßenbahnbelege in den Auktionswettbewerb führen. Die Schätzwerte für individuelle Belege und Partien sind kaum der Rede wert, vielmehr so bemessen, dass für den Nachverkauf nichts übrig bleiben sollte. Dabei ist für im Postverkehr überdurchschnittlich beanspruchte Belege dieser Art die Qualität der meisten offerierten Stücke beeindruckend gut. Schönheiten eben.

Moderiertes Porto zu moderater Schätzung

Unter „moderiertem Porto“ versteht der kundige Postgeschichtler eine Postfreimachung zu ermäßigter Gebühr – möglich beispielsweise bei der Schweiz, mehreren altdeutschen Postverwaltungen und etlichen weiteren Länderposten – unter der Voraussetzung, dass eine vorgegebene Anzahl (etwa 25, 50, 100) gleichartiger Sendungen zur selben Zeit aufgegeben werden. Eine solche „Portomoderation“ (mit oder ohne zusätzliche Stempelkennzeichung) ist fast immer recht selten und wird heute in aller Regel gut honoriert. Ein ganz besonderer, in dieser Form möglicherweise einmaliger Portomoderationsbeleg ist jedoch der hier gezeigte Hannover-Brief mit einem waagerechten Paar der MiNr. 6 (ein moderiertes Porto zu 6 Pfg. für die Strecke von Harburg ins dänische Altona). Es handelt sich um die bisher einzige bekannte Portomoderation auf dieser Strecke, die ja zudem ins Ausland ging. Der Brief war noch nie auf einer Auktion, ist aber keine Neuentdeckung, da er schon 1998 von der Arbeitsgemeinschaft Hannover (R. Heitling) ausführlich beschrieben wurde. Ausruf: 1500 Euro.

„Stettiner Zipfel“

Es klingt nach dem unglücklichen Ende einer Wurstpelle, und rein „phänomenologisch“ ist dies auch nicht so ganz verkehrt. Ein „Powiat“ entspricht in Polen grob einem deutschen Landkreis. Der „Powiat Policki“ ist ein Powiat im Nordwesten der polnischen Woiwodschaft Westpommern, der flächenmäßig der kleinste der Woiwodschaften ist (falls ein solcher Plural statthaft ist). Im Norden grenzt er an das Stettiner Haff, im Westen an den deutschen Landkreis Vorpommern-Greifswald, im Süden in Pargow an die Oder, im Osten an die Stadt Stettin, dann abermals an die Oder in Pölitz und an den polnischen Landschaftsschutzpark Unteres Odertal (Park Krajobrazowy Dolina Dolnej Odry).

Der Powiat Policki befindet sich damit fast vollständig auf dem (heute) polnischen Gebiet des historischen Vorpommern. Im Sprachgebrauch der nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertriebenen deutschen Bevölkerung wird er deshalb auch als „Stettiner Zipfel“ bezeichnet. Post von dort aus der unter vielfältigen Beschränkungen leidenden frühen Nachkriegszeit hat in sehr vielen Fällen den Charakter von Provisorien – mit allen Sorten von Notmaßnahmen (Barfrankaturen, einer einfallsreichen Fülle an Nebenstempeln, handschriftlichen Vermerken) derer Postbedienstete sich bei solchen Gelegenheiten zu bedienen pflegen. Aus diesem „zipfeligen“ Stettiner Sondergebiet bietet die Auktion ein halbes Dutzend attraktiver, zeittypischer Lose mit teils mehreren Belegen. Dass der Gesamtschätzwert für diese Positionen kaum über 1000 Euro liegt, darf man getrost als freundliche Geste verstehen.

Saarität

Die erste Ganzsachenkarte (P 1I) aus dem Saargebiet ist durch den Aufdruck SAARGEBIET auf einer Urkarte 10  Pfg. Germania des Deutschen Reiches entstanden. Üblicherweise diente als Urkarte für diese Maßnahme die Ganzsache P 107. Allenfalls sehr wenige solcher Aufdrucke sind auch auf der älteren, aber sehr ähnlich aussehenden 10-Pfg.-Karte P 74 vorgenommen worden – zweifellos ein Versehen, das möglicherweise sogar einmalig war, denn wie das Fotoattest von Alfred Burger (nicht „Brugger“, wie es in der Losbeschreibung versehentlich heißt) feststellt, handelte es sich zum Prüfzeitpunkt (1982) um „die einzige mir bekannte Urkarte ‚DR Nr. P 74‘)“. Sollte diese Einschätzung auch heute noch Gültigkeit haben, dann hätten wir hier ein Unikat vor uns! Daran gemessen sind 800 Euro Ausruf „kleines Geld“.

Zu guter Letzt…

…verdient ein ausgemachtes Highlight der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert gesonderte Hervorhebung: eine rekommandierte Ortspostkarte von HAMBURG / HAMM-HORN, frankiert mit der Stadtpostmarke MiNr. 24 des Norddeutschen Postbezirks in äußerst seltener Mischfrankatur mit den Brustschild-Marken MiNrn. 1 und 19 – diese Karte wird erstmals auf einer Auktion angeboten. Ihre Seltenheit in der vorliegenden Form muss NDP-, Brustschild- und Hamburg-Sammlern nicht eigens erläutert werden. Dem Rest darf ich immerhin versichern, dass mir bisher keine Handvoll ähnlicher Stücke untergekommen ist.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (3)

Farbige Post, banal und feudal

Einfarbige oder beliebig bunte Briefumschläge sind heute potentiell Alltagsware. Wer bereit ist, ggf. geringe Zusatzkosten zu tragen, der kann sie sich wohl in den absonderlichsten farblichen Kombinationen selbst beschaffen. Mit persönlichen Erfahrungen bunter Briefe bin ich selbst eher spärlich gesegnet. Die einzigen farbigen Beispiele, die mir spontan einfallen, sind Briefe, die man gemeinhin als „blaue Briefe“ bezeichnet. Meine waren eine Enttäuschung und das gleich zweifach: zum einen – und vor allem – weil es sie überhaupt gab, zum anderen aber auch, weil sie ungeachtet ihres Namens gar nicht blau waren, noch nicht einmal bläulich. Keine Spur. Solche Briefe waren innen wie außen ohne Eleganz.

Ich gebe zu: Der „blaue Brief“ stellt ein ganz schwaches Beispiel für „farbige“ Briefe dar, insbesondere dann, wenn man ihn mit seinem hier zu beschreibenden Gegenpart vergleicht. Mit diesem einzigen farbigen (allerdings ebenfalls gar nicht blauen) Brief, dem ich bis heute ästhetisch etwas abgewinnen kann, hat mich unlängst Hans-Joachim Schwanke vertraut gemacht: mit dem „goldenen Brief“ des vietnamesischen Kaisers Khai Dinh (Regentschaft 1916-1925). Während der vergangenen 40 Jahre habe ich mancherlei philatelistisch und postgeschichtlich Eindrucksvolles und Eigentümliches zu sehen bekommen, aber noch nie einen solchen goldenen Kaiserbrief aus Vietnam. Wie die Losbeschreibung ausführt, handelt es sich um einen bronzefarbigen Ornamentikdruck mit goldfarbener Hand-Koloration und Beschriftung mit schwarzer Tinte; die goldene Farbe war exklusiv dem Kaiser vorbehalten. Nach allem, was ich über solche Briefe weiß, sind sie nicht nur extrem selten (vor allem in solcher Qualität), nein, schon das Reden im Plural verbietet sich eigentlich angesichts eines solchen immer individuellenStücks. Was sind dagegen schon „blaue Briefe“ unseligen Angedenkens – selbst, wenn sie blau gewesen wären?

„Sắc phong“ ist eine offizielle Urkunde des Kaisers, ein wichtiges historisches Dokument, das die Kommunikation zwischen Kaiser und Volk bzw. Kaiser und Untergebenen (z.B. Beamte, Volk, Militär) darstellt. Außer in inhaltlichen Gesichtspunkten liegt die Bedeutung des „Sắc phong“ einerseits in der ungewöhnlichen Qualität seiner Gestaltung, die die zeitgenössischen ästhetischen Vorstellungen widerspiegelt, andererseits in der beispielhaft guten Erhaltung.

Der Brief ehrt zum einen die historische Figur Đoàn Thượng, einen General der Ly-Dynastie im 13. Jahrhundert. Zugleich ist er darum bemüht, den Leser daran zu erinnern, dass dem Kaiser sehr daran gelegen war, künftig nicht in Vergessenheit zu geraten und weiterhin angemessen verehrt zu werden.

Das verantwortliche Personal der Provinz, so heißt es, möge doch bitte dafür Sorge tragen.

Wem all dies zu profan ist, der mag sich daran erinnern, dass die grandiosen 100.000 Tontafeln mit Keilschrifttexten aus Babylon ganz überwiegend (das Gilgamesch-Epos nehmen wir dabei gerne aus) Einkaufszettel, Lagerlisten, Heeresaufstellungen und Sammlungen von Gesetzen und Verordnungen umfassen. Gerade das aber hat sie so wertvoll gemacht, weil sie uns auch heute noch die babylonische Lebenswelt erschließen.

Beim ersten Mal


Nicht nur ‚Einmaligkeit‘ ist in der Philatelie ein wertbestimmender Faktor; auch an ‚Erstmaligkeit‘ darf man gehörig Gefallen finden, sofern sie nur hinreichend erwiesen ist. Schon definitionsgemäß stellen Ersttagsbelege oder Abstempelungen vom Ersttag ein beliebtes, weil werthaltiges Sammelgebiet dar. Ersttagsbriefe – während der letzten Jahrzehnte in großen Stückzahlen, oft ohne rechten philatelistischen Verstand, dafür nach vermeintlich massentauglichem Geschmack hergestellt – sind heute allerdings wohlfeile Ware. Je jünger und banaler die verwendeten Marken und die Ausgabe-Anlässe, um so geringer wird man einen aktuellen oder künftigen Wert ansetzen müssen. Sicher gibt es zahlreiche echte und tatsächliche seltene Belege, die alle Ersttagskriterien erfüllen. Dabei wird das reine, postseitig bestimmte Datum der Markenausgabe leider oft als ein philatelistisches anstatt als ein verwaltungstechnisches Kriterium missverstanden.Natürlich gibt es ohne Zweifel unter den reinen Ersttagsbriefen und Abstempelungen vom Ersttag vielerlei Seltenheiten, wie beispielsweise den Ersttagsstempel „LERICI 1 DEC 1863“ ideal auf Briefstück mit Italiens MiNr. 18. Oder man denke an manche semi-moderne Ersttagsbriefe der Schweiz oder an Sonn- und Feiertage als Markenausgabetage, an denen Postämter geschlossen, Ersttagsbriefe daher kaum herstellbar waren.

Die aktuelle Schwanke-Auktion – die 350., eine bemerkenswerte Ziffer, die die Lebensleistungen von Vater und Sohn Schwanke nur vage erahnen lässt – enthält beachtlich viele Stücke, die unter solchen Gesichtspunkten Beachtung verdienen. Ab und zu kommt es dabei sogar vor, dass Erstmaligkeit sich mit Einmaligkeit paart.Oft spannender und aussagekräftiger aber als die klassischen, ausschließlich für den Sammler nach Ausgabedatum hergestellte und frankierte und meistens nicht einmal gelaufene Briefe, sind bestimmte Belege, Briefstücke oder Abstempelungen, die nicht notwendigerweise dem kalendarischen Ersttag verpflichtet sind, sondern bei denen es sich – vom Ausgabedatum weitgehend unabhängig – um andere früheste bekannt gewordene Verwendungen und andere „Firsts“ handelt, die sich nicht streng an kalendarisch verorteten Gebrauchsdaten orientieren.

Beginnen wir mit Finnland (Los Nr. 696). Das früheste bekannte Verwendungsdatum (im Gegensatz zum Ersttagstermin) der finnischen 10 Kop. der Erstausgabe (MiNr. 2x) liegt hier mit klarem zweizeiligen Rahmenstempel „WIBORG 8 MAR 1856“ vor. Es handelt sich nicht bloß um die früheste registrierte Verwendung dieser Marke, sondern um den frühesten Stempelabschlag überhaupt auf einer Briefmarke Finnlands, zudem augenscheinlich in sehr beachtlicher Qualität.

Gebührende Aufmerksamkeit hat auch eine schöne und rare Abstempelung „CORREO. DE LA PAZ.1(5?). DICIEM 67“ auf Briefstück mit einer allseits breitrandigen 5 c. violett (MiNr.5) verrdient; hier haben wir möglicherweise die früheste Verwendung dieser Briefmarke vor uns, dazu in einer Erhaltung, die sich für eine so frühe Ausgabe keineswegs von selbst versteht.

Wandern wir weiter nach St. Pierre et Miquelon und zu Los 1701: Hier handelt es sich um MiNr. 1 mit zentrischem Zweikreisstempel vom 31. Januar 1885 – erneut eine früheste bekannte Abstempelung nicht nur dieser Marke, sondern dieses philatelistischen Gebietes überhaupt. Ein Glücksfall, dass ein solches Stück fast ohne Beeinträchtigung überdauert hat.

Und da war da noch…


Bei einem weiteren Blickfang, der – wenn auch diesmal kein „Erstling“ – bei der Durchquerung des Katalogs am Wegesrand entdeckt und im Gedächntnis geblieben ist, handelt es sich um eine seltene Steindruck-Probe von Meinhold im waagerechten Viererstreifen zu Sachsens MiNr. 6. Dabei ist zwischen der 3. und 4. Marke eine sehr markante Klischeeverschiebung – man möchte schon sagen: ein Klischeesprung – zu besichtigen. Man mag es meiner Unkenntnis anlasten, aber Klischeeverschiebugen in solcher Deutlichkeit und mit solchen Abmessungen habe ich bisher eher mit Preußen als mit Sachsen verbunden; und auch dort sind sie selten.Über eine weitere, spektakulär akkurate Luxusabstempelung – diesmal des großen Einkreisstempels „REDWITZ b. WUNDS DL 19/9“ als bayerische Fremdentwertung auf fabelhaftem Briefstück mit MiNr. 18 des Deutschen Reichs – muss ich gar nicht viele Worte machen. Man braucht das Stück nur zu betrachten, um Gefallen an ihm zu finden. Selbst der kritischere Blick wird nicht viel auszusetzen finden. Und wenn das keiner kauft, überlege ich‘s mir.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (2)

Hans-Joachim Schwanke hat mir die Wahl eines Anknüpfungsobjektes allerdings insofern leicht gemacht, als er ein schönes, postgeschichtlich aussagekräftiges und der Beliebigkeit ganz unverdächtiges Objekt im Februar 2015 in seiner 349. Auktion präsentiert – aufgenommen und bearbeitet schon eine ganze Weile, bevor er um die Pariser Greueltat gewusst haben kann.

Mich drängt es mithin, mit einer Verneigung vor den tapferen französischen Kollegen, auf Los Nr. 100 der Schwanke-Auktion hinzuweisen: auf einen rekommandierten Brief der Französischen Auslandspost in China. Aufgegeben wurde dieses Couvert – mischfrankiert (mit den MiNrn 5 und 8) und fast kalligraphisch beschriftet – am 25. Februar 1902 (PEKIN 25 FEVR 02).

Gerichtet ist der Brief an Monsieur M. Harduin1, den „Rédakteur en chef“ der bedeutenden Pariser Zeitung Le Matin in deren Redaktionsräumen am Boulevard Poissonnére in Paris, nicht sehr weit entfernt vom Ort der gestrigen abscheulichen Bluttat. – Je suis Charlie.

(Geschrieben am 09.01.2015)

Gefallen am Besonderen

Die Dinge des Lebens werden oft verständlicher,
wenn man sie im Zusammenhang sieht und beurteilt.

Das gilt in besonderem Maße auch für Belange der Philatelie und Postgeschichte und könnte als eine Art Motto über unserer kleinen, in lockerer Folge erscheinenden Rubrik stehen. Oft zahlt es sich aus, die „Dinge des Lebens“ möglichst direkt anzugehen. Nicht selten aber erweist sich eine Umleitung letztlich doch als der direktere oder schnellere Weg zum Ziel.

Damit zur Sache: Der Schwarze Einser Bayerns (MiNr. 1) ist nicht nur die älteste, sondern auch eine der beliebtesten Ausgaben der deutschen Briefmarken-Klassik. In vergleichbarer Qualität noch werthaltiger ist aber u.a. Sachsens erste Briefmarke, der sogenannte Sachsendreier. In vollständigen Halbbogen haben wir die Bayern-Eins in den letzten Jahrzehnten mehrmals auf Messen und bei Briefmarken-Versteigerungen zu sehen bekommen. Ähnliches lässt sich vom Sachsendreier nicht behaupten. Aber vor bald zwei Jahrzehnten wurde auch diese erste Freimarke Sachsens wieder einmal im legendären, weil einzig erhalten gebliebenen Komplettbogen2 zum Ausrufpreis von damals 600.000 DM zugeschlagen.

Zwei der seltensten und in Spitzenqualität gesuchtesten deutschen Briefmarkenausgaben waren also zu unseren Lebzeiten in Halb- oder gar im Ganzbogen auf dem Auktionsmarkt zu haben. Weshalb ich das erwähnenswert finde, sollte unmittelbar klar werden, wenn ich Sie nach vergleichbaren Angeboten anderer Topausgaben frage, an die Sie sich erinnern können: die Blaue oder Rote Mauritius? Kein Gedanke. Natürlich. Die „Missionaries“ von Hawaii oder brasilianische Ochsenaugen? Nein, die ebenfalls nicht. Kleinere Kaliber wie Schleswig-Holsteins Erstausgaben oder „bloß“ die zweite und dritte preußische Kopfmarken-Ausgabe, selbst Basler Täubchen? All das niemals.

Müssen wir uns also schon mit Einzelstücken oder Kleineinheiten besserer Marken begnügen, dann findet vielleicht doch eines von nur acht existierenden ungebrauchten Exemplaren der MiNr. 1 IV, 15 c. schwarz a. blau, ungebraucht (1852), der zu Frankreich gehörenden Insel Réunion Interesse, bei der es sich gemäß Beschreibung um die drittseltenste Briefmarken-Erstausgabe der Welt handeln soll? Da ist man froh um jedes einzelne Stück, das es gibt. Vergleichbares gilt sicher für den Farbfehldruck „50 Centimos blau“ (statt 10 c.) einer marokkanischen Lokalpostmarke der Ausgabe 1893-1895. Oder für Mexikos seltene Flugpostmarke MiNr. 740 mit Wz. 9. Spätestens hier drängt sich dem Betrachter allmählich auf, dass und wie sich unstrittig seltene Briefmarken von Raritäten, gar von Weltseltenheiten unterscheiden. Die vorstehenden Vergleiche, das räume ich ein, sind alle ein wenig unfair, aber sie sollen ja nur mein eigentliches Argument illustrieren – dass nämlich auch die Zuweisung von Seltenheitsstufen nicht vom Himmel fällt, sondern dass sie vor allem von vorherrschenden Moden und von individueller wirtschaftlicher Potenz und allgemeinen ökonomischen Verhältnissen, ferner von individuellen Wertentwicklungshoffnungen und Geschmacksentscheidungen, vor allem aber auch von Spekulationslust und finanziellen Sicherheitsvorstellungen abhängt. Hinzu kommt bisweilen ganz Unvorhergesehens wie die faktische „Währungsangleichung“ des Schweizer Franken und des Euro.

Diese und zahlreiche weitere Angebote, die der philatelistische Markt uns dieser Tage unterbreitet, treffen einerseits auf eine für alle Interessenten relativ kommode Marktsituation, andererseits aber auf eine allgemeine Wirtschaftslage, die es vor allem besser situierten Kreisen von Sammlern und Investoren erlaubt, Preise für wirklich seltene Briefmarken in ausgesuchter, ja bestmöglicher Qualität zu zahlen, die vor einem Augenblick noch als unvorstellbar galten. Beispiele dafür kann man praktisch wöchentlich neu erleben, während ehedem mit hohem Kapitaleinsatz aufgeplusterte Standardspitzen – man denke an den Posthornsatz oder Berlins Währungsgeschädigten-Block — sich kaum noch ans Licht des Tages trauen. Dem gegenüber ist das überragende Resultat von 9,5 Millionen US-Dollar für British Guyanas Erstausgabe 1 P. magenta zwar exzeptionell, könnte aber noch um viele weitere, ebenfalls spektakuläre Beispiele unterfüttert werden. Dabei kommen kundige Sammler und clevere Anleger mittlerweile in der so leicht wie selten zu begründenden Einsicht überein, dass eine Investition (mit abgewogener zeitlicher Perspektive) in Philatelie und Postgeschichte eine kluge Entscheidung sein kann.

Wenn man, wie es unser selbstgewähltes Motto empfiehlt, die Dinge des Lebens im Zusammenhang betrachten und beurteilen will, dann lassen sich aus unseren oben ja nur angedeuteten Vergleichen noch viele weitere spannende Diskussionsthemen destillieren. Insbesondere haben wir allen Anlass (und werden darauf recht bald zurückkommen), uns über einige Einflussfakotren neu zu verständigen, deren Wirksamkeit wir oft ohne ausreichende Gründe bloß unterstellen. So werden wir wohl beizeiten auch über unsere Verständnisse von „selten“ und von „Rarität“ noch einmal genauer reden müssen.

Postgeschichtliche Paraphernalia

Unter Paraphernalien werden im weiteren Sinne Gegenstände verstanden, die zu einem speziellen „Kult“ gehören und deren Wert nur innerhalb dieses „Kultes“ ersichtlich ist. Wenn man die Bezeichnung „Kult“ (im Sinne von „Kultus“) wenigstens kurzfristig auch für die Philatelie zulässt, dann mag man als eine solche Paraphernalie auch ein Attest von einem Altmeister der Prüferzunft, von Max Thier, gelten lassen. Es handelt sich um ein Attest für ein allseits voll- bis überrandiges „Savoyer Kreuz“ (Neapel, MiNr. 9) mit übergehendem „Annulato“-Stempel auf Zeitungs-Ausschnitt. Es sind wohl einige noch frühere Atteste für Philatelistisches erhalten geblieben, es dürften aber nicht sehr viele sein. Dieses Los Nr. 238 ist außerdem von zwei weiteren, moderneren Attesten begleitet. Man wird nicht so verblendet sein, das Attest höher als die Marken zu bewerten. Aber einen Preisaufschlag sollte ein so frühes Zeugnis wohl schon wert sein.


1 Wie der Zufall (oder wer auch immer) es will, hat mir noch vor kurzem eine alte Photographie von Monsieur Harduin aus dem Jahr 1908 vorgelegen – mit handschriftlichem Verweis auf seine herausgehobene Redakteursstellung bei Le Matin und wohl eigenhändiger Signatur „H[enri] Harduin“. Daraus mag man den Schluss ziehen, dass die Beschriftung des Briefumschlags seinerzeit fehlerhaft (falsche Vornamens-Initiale „M.“) gewesen ist. Anderenfalls müsste man annehmen, dass es seinerzeit bei Le Matin in kurzer Folge (mindestens) zwei Chefredakteure gleichen Nachnamens gegeben habe; nicht sehr wahrscheinlich, aber auch möglich.

2Die Geschichte dieses einmaligen, wenn auch etwas derangierten Bogens habe ich anderenorts ausführlicher dargestellt: Hövelmann, G.H. (1997). Geschichte einer Legende: Der „Sachsen-Dreier“ im Komplettbogen. Deutsche Briefmarken-Zeitung, 72(4),19-22.
Natürlich hatten auch Kollegen seinerzeit die Feder gespitzt und Zitables hervorgebracht.