Rares und Kurioses (3)

Farbige Post, banal und feudal

Einfarbige oder beliebig bunte Briefumschläge sind heute potentiell Alltagsware. Wer bereit ist, ggf. geringe Zusatzkosten zu tragen, der kann sie sich wohl in den absonderlichsten farblichen Kombinationen selbst beschaffen. Mit persönlichen Erfahrungen bunter Briefe bin ich selbst eher spärlich gesegnet. Die einzigen farbigen Beispiele, die mir spontan einfallen, sind Briefe, die man gemeinhin als „blaue Briefe“ bezeichnet. Meine waren eine Enttäuschung und das gleich zweifach: zum einen – und vor allem – weil es sie überhaupt gab, zum anderen aber auch, weil sie ungeachtet ihres Namens gar nicht blau waren, noch nicht einmal bläulich. Keine Spur. Solche Briefe waren innen wie außen ohne Eleganz.

Ich gebe zu: Der „blaue Brief“ stellt ein ganz schwaches Beispiel für „farbige“ Briefe dar, insbesondere dann, wenn man ihn mit seinem hier zu beschreibenden Gegenpart vergleicht. Mit diesem einzigen farbigen (allerdings ebenfalls gar nicht blauen) Brief, dem ich bis heute ästhetisch etwas abgewinnen kann, hat mich unlängst Hans-Joachim Schwanke vertraut gemacht: mit dem „goldenen Brief“ des vietnamesischen Kaisers Khai Dinh (Regentschaft 1916-1925). Während der vergangenen 40 Jahre habe ich mancherlei philatelistisch und postgeschichtlich Eindrucksvolles und Eigentümliches zu sehen bekommen, aber noch nie einen solchen goldenen Kaiserbrief aus Vietnam. Wie die Losbeschreibung ausführt, handelt es sich um einen bronzefarbigen Ornamentikdruck mit goldfarbener Hand-Koloration und Beschriftung mit schwarzer Tinte; die goldene Farbe war exklusiv dem Kaiser vorbehalten. Nach allem, was ich über solche Briefe weiß, sind sie nicht nur extrem selten (vor allem in solcher Qualität), nein, schon das Reden im Plural verbietet sich eigentlich angesichts eines solchen immer individuellenStücks. Was sind dagegen schon „blaue Briefe“ unseligen Angedenkens – selbst, wenn sie blau gewesen wären?

„Sắc phong“ ist eine offizielle Urkunde des Kaisers, ein wichtiges historisches Dokument, das die Kommunikation zwischen Kaiser und Volk bzw. Kaiser und Untergebenen (z.B. Beamte, Volk, Militär) darstellt. Außer in inhaltlichen Gesichtspunkten liegt die Bedeutung des „Sắc phong“ einerseits in der ungewöhnlichen Qualität seiner Gestaltung, die die zeitgenössischen ästhetischen Vorstellungen widerspiegelt, andererseits in der beispielhaft guten Erhaltung.

Der Brief ehrt zum einen die historische Figur Đoàn Thượng, einen General der Ly-Dynastie im 13. Jahrhundert. Zugleich ist er darum bemüht, den Leser daran zu erinnern, dass dem Kaiser sehr daran gelegen war, künftig nicht in Vergessenheit zu geraten und weiterhin angemessen verehrt zu werden.

Das verantwortliche Personal der Provinz, so heißt es, möge doch bitte dafür Sorge tragen.

Wem all dies zu profan ist, der mag sich daran erinnern, dass die grandiosen 100.000 Tontafeln mit Keilschrifttexten aus Babylon ganz überwiegend (das Gilgamesch-Epos nehmen wir dabei gerne aus) Einkaufszettel, Lagerlisten, Heeresaufstellungen und Sammlungen von Gesetzen und Verordnungen umfassen. Gerade das aber hat sie so wertvoll gemacht, weil sie uns auch heute noch die babylonische Lebenswelt erschließen.

Beim ersten Mal


Nicht nur ‚Einmaligkeit‘ ist in der Philatelie ein wertbestimmender Faktor; auch an ‚Erstmaligkeit‘ darf man gehörig Gefallen finden, sofern sie nur hinreichend erwiesen ist. Schon definitionsgemäß stellen Ersttagsbelege oder Abstempelungen vom Ersttag ein beliebtes, weil werthaltiges Sammelgebiet dar. Ersttagsbriefe – während der letzten Jahrzehnte in großen Stückzahlen, oft ohne rechten philatelistischen Verstand, dafür nach vermeintlich massentauglichem Geschmack hergestellt – sind heute allerdings wohlfeile Ware. Je jünger und banaler die verwendeten Marken und die Ausgabe-Anlässe, um so geringer wird man einen aktuellen oder künftigen Wert ansetzen müssen. Sicher gibt es zahlreiche echte und tatsächliche seltene Belege, die alle Ersttagskriterien erfüllen. Dabei wird das reine, postseitig bestimmte Datum der Markenausgabe leider oft als ein philatelistisches anstatt als ein verwaltungstechnisches Kriterium missverstanden.Natürlich gibt es ohne Zweifel unter den reinen Ersttagsbriefen und Abstempelungen vom Ersttag vielerlei Seltenheiten, wie beispielsweise den Ersttagsstempel „LERICI 1 DEC 1863“ ideal auf Briefstück mit Italiens MiNr. 18. Oder man denke an manche semi-moderne Ersttagsbriefe der Schweiz oder an Sonn- und Feiertage als Markenausgabetage, an denen Postämter geschlossen, Ersttagsbriefe daher kaum herstellbar waren.

Die aktuelle Schwanke-Auktion – die 350., eine bemerkenswerte Ziffer, die die Lebensleistungen von Vater und Sohn Schwanke nur vage erahnen lässt – enthält beachtlich viele Stücke, die unter solchen Gesichtspunkten Beachtung verdienen. Ab und zu kommt es dabei sogar vor, dass Erstmaligkeit sich mit Einmaligkeit paart.Oft spannender und aussagekräftiger aber als die klassischen, ausschließlich für den Sammler nach Ausgabedatum hergestellte und frankierte und meistens nicht einmal gelaufene Briefe, sind bestimmte Belege, Briefstücke oder Abstempelungen, die nicht notwendigerweise dem kalendarischen Ersttag verpflichtet sind, sondern bei denen es sich – vom Ausgabedatum weitgehend unabhängig – um andere früheste bekannt gewordene Verwendungen und andere „Firsts“ handelt, die sich nicht streng an kalendarisch verorteten Gebrauchsdaten orientieren.

Beginnen wir mit Finnland (Los Nr. 696). Das früheste bekannte Verwendungsdatum (im Gegensatz zum Ersttagstermin) der finnischen 10 Kop. der Erstausgabe (MiNr. 2x) liegt hier mit klarem zweizeiligen Rahmenstempel „WIBORG 8 MAR 1856“ vor. Es handelt sich nicht bloß um die früheste registrierte Verwendung dieser Marke, sondern um den frühesten Stempelabschlag überhaupt auf einer Briefmarke Finnlands, zudem augenscheinlich in sehr beachtlicher Qualität.

Gebührende Aufmerksamkeit hat auch eine schöne und rare Abstempelung „CORREO. DE LA PAZ.1(5?). DICIEM 67“ auf Briefstück mit einer allseits breitrandigen 5 c. violett (MiNr.5) verrdient; hier haben wir möglicherweise die früheste Verwendung dieser Briefmarke vor uns, dazu in einer Erhaltung, die sich für eine so frühe Ausgabe keineswegs von selbst versteht.

Wandern wir weiter nach St. Pierre et Miquelon und zu Los 1701: Hier handelt es sich um MiNr. 1 mit zentrischem Zweikreisstempel vom 31. Januar 1885 – erneut eine früheste bekannte Abstempelung nicht nur dieser Marke, sondern dieses philatelistischen Gebietes überhaupt. Ein Glücksfall, dass ein solches Stück fast ohne Beeinträchtigung überdauert hat.

Und da war da noch…


Bei einem weiteren Blickfang, der – wenn auch diesmal kein „Erstling“ – bei der Durchquerung des Katalogs am Wegesrand entdeckt und im Gedächntnis geblieben ist, handelt es sich um eine seltene Steindruck-Probe von Meinhold im waagerechten Viererstreifen zu Sachsens MiNr. 6. Dabei ist zwischen der 3. und 4. Marke eine sehr markante Klischeeverschiebung – man möchte schon sagen: ein Klischeesprung – zu besichtigen. Man mag es meiner Unkenntnis anlasten, aber Klischeeverschiebugen in solcher Deutlichkeit und mit solchen Abmessungen habe ich bisher eher mit Preußen als mit Sachsen verbunden; und auch dort sind sie selten.Über eine weitere, spektakulär akkurate Luxusabstempelung – diesmal des großen Einkreisstempels „REDWITZ b. WUNDS DL 19/9“ als bayerische Fremdentwertung auf fabelhaftem Briefstück mit MiNr. 18 des Deutschen Reichs – muss ich gar nicht viele Worte machen. Man braucht das Stück nur zu betrachten, um Gefallen an ihm zu finden. Selbst der kritischere Blick wird nicht viel auszusetzen finden. Und wenn das keiner kauft, überlege ich‘s mir.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (2)

Hans-Joachim Schwanke hat mir die Wahl eines Anknüpfungsobjektes allerdings insofern leicht gemacht, als er ein schönes, postgeschichtlich aussagekräftiges und der Beliebigkeit ganz unverdächtiges Objekt im Februar 2015 in seiner 349. Auktion präsentiert – aufgenommen und bearbeitet schon eine ganze Weile, bevor er um die Pariser Greueltat gewusst haben kann.

Mich drängt es mithin, mit einer Verneigung vor den tapferen französischen Kollegen, auf Los Nr. 100 der Schwanke-Auktion hinzuweisen: auf einen rekommandierten Brief der Französischen Auslandspost in China. Aufgegeben wurde dieses Couvert – mischfrankiert (mit den MiNrn 5 und 8) und fast kalligraphisch beschriftet – am 25. Februar 1902 (PEKIN 25 FEVR 02).

Gerichtet ist der Brief an Monsieur M. Harduin1, den „Rédakteur en chef“ der bedeutenden Pariser Zeitung Le Matin in deren Redaktionsräumen am Boulevard Poissonnére in Paris, nicht sehr weit entfernt vom Ort der gestrigen abscheulichen Bluttat. – Je suis Charlie.

(Geschrieben am 09.01.2015)

Gefallen am Besonderen

Die Dinge des Lebens werden oft verständlicher,
wenn man sie im Zusammenhang sieht und beurteilt.

Das gilt in besonderem Maße auch für Belange der Philatelie und Postgeschichte und könnte als eine Art Motto über unserer kleinen, in lockerer Folge erscheinenden Rubrik stehen. Oft zahlt es sich aus, die „Dinge des Lebens“ möglichst direkt anzugehen. Nicht selten aber erweist sich eine Umleitung letztlich doch als der direktere oder schnellere Weg zum Ziel.

Damit zur Sache: Der Schwarze Einser Bayerns (MiNr. 1) ist nicht nur die älteste, sondern auch eine der beliebtesten Ausgaben der deutschen Briefmarken-Klassik. In vergleichbarer Qualität noch werthaltiger ist aber u.a. Sachsens erste Briefmarke, der sogenannte Sachsendreier. In vollständigen Halbbogen haben wir die Bayern-Eins in den letzten Jahrzehnten mehrmals auf Messen und bei Briefmarken-Versteigerungen zu sehen bekommen. Ähnliches lässt sich vom Sachsendreier nicht behaupten. Aber vor bald zwei Jahrzehnten wurde auch diese erste Freimarke Sachsens wieder einmal im legendären, weil einzig erhalten gebliebenen Komplettbogen2 zum Ausrufpreis von damals 600.000 DM zugeschlagen.

Zwei der seltensten und in Spitzenqualität gesuchtesten deutschen Briefmarkenausgaben waren also zu unseren Lebzeiten in Halb- oder gar im Ganzbogen auf dem Auktionsmarkt zu haben. Weshalb ich das erwähnenswert finde, sollte unmittelbar klar werden, wenn ich Sie nach vergleichbaren Angeboten anderer Topausgaben frage, an die Sie sich erinnern können: die Blaue oder Rote Mauritius? Kein Gedanke. Natürlich. Die „Missionaries“ von Hawaii oder brasilianische Ochsenaugen? Nein, die ebenfalls nicht. Kleinere Kaliber wie Schleswig-Holsteins Erstausgaben oder „bloß“ die zweite und dritte preußische Kopfmarken-Ausgabe, selbst Basler Täubchen? All das niemals.

Müssen wir uns also schon mit Einzelstücken oder Kleineinheiten besserer Marken begnügen, dann findet vielleicht doch eines von nur acht existierenden ungebrauchten Exemplaren der MiNr. 1 IV, 15 c. schwarz a. blau, ungebraucht (1852), der zu Frankreich gehörenden Insel Réunion Interesse, bei der es sich gemäß Beschreibung um die drittseltenste Briefmarken-Erstausgabe der Welt handeln soll? Da ist man froh um jedes einzelne Stück, das es gibt. Vergleichbares gilt sicher für den Farbfehldruck „50 Centimos blau“ (statt 10 c.) einer marokkanischen Lokalpostmarke der Ausgabe 1893-1895. Oder für Mexikos seltene Flugpostmarke MiNr. 740 mit Wz. 9. Spätestens hier drängt sich dem Betrachter allmählich auf, dass und wie sich unstrittig seltene Briefmarken von Raritäten, gar von Weltseltenheiten unterscheiden. Die vorstehenden Vergleiche, das räume ich ein, sind alle ein wenig unfair, aber sie sollen ja nur mein eigentliches Argument illustrieren – dass nämlich auch die Zuweisung von Seltenheitsstufen nicht vom Himmel fällt, sondern dass sie vor allem von vorherrschenden Moden und von individueller wirtschaftlicher Potenz und allgemeinen ökonomischen Verhältnissen, ferner von individuellen Wertentwicklungshoffnungen und Geschmacksentscheidungen, vor allem aber auch von Spekulationslust und finanziellen Sicherheitsvorstellungen abhängt. Hinzu kommt bisweilen ganz Unvorhergesehens wie die faktische „Währungsangleichung“ des Schweizer Franken und des Euro.

Diese und zahlreiche weitere Angebote, die der philatelistische Markt uns dieser Tage unterbreitet, treffen einerseits auf eine für alle Interessenten relativ kommode Marktsituation, andererseits aber auf eine allgemeine Wirtschaftslage, die es vor allem besser situierten Kreisen von Sammlern und Investoren erlaubt, Preise für wirklich seltene Briefmarken in ausgesuchter, ja bestmöglicher Qualität zu zahlen, die vor einem Augenblick noch als unvorstellbar galten. Beispiele dafür kann man praktisch wöchentlich neu erleben, während ehedem mit hohem Kapitaleinsatz aufgeplusterte Standardspitzen – man denke an den Posthornsatz oder Berlins Währungsgeschädigten-Block — sich kaum noch ans Licht des Tages trauen. Dem gegenüber ist das überragende Resultat von 9,5 Millionen US-Dollar für British Guyanas Erstausgabe 1 P. magenta zwar exzeptionell, könnte aber noch um viele weitere, ebenfalls spektakuläre Beispiele unterfüttert werden. Dabei kommen kundige Sammler und clevere Anleger mittlerweile in der so leicht wie selten zu begründenden Einsicht überein, dass eine Investition (mit abgewogener zeitlicher Perspektive) in Philatelie und Postgeschichte eine kluge Entscheidung sein kann.

Wenn man, wie es unser selbstgewähltes Motto empfiehlt, die Dinge des Lebens im Zusammenhang betrachten und beurteilen will, dann lassen sich aus unseren oben ja nur angedeuteten Vergleichen noch viele weitere spannende Diskussionsthemen destillieren. Insbesondere haben wir allen Anlass (und werden darauf recht bald zurückkommen), uns über einige Einflussfakotren neu zu verständigen, deren Wirksamkeit wir oft ohne ausreichende Gründe bloß unterstellen. So werden wir wohl beizeiten auch über unsere Verständnisse von „selten“ und von „Rarität“ noch einmal genauer reden müssen.

Postgeschichtliche Paraphernalia

Unter Paraphernalien werden im weiteren Sinne Gegenstände verstanden, die zu einem speziellen „Kult“ gehören und deren Wert nur innerhalb dieses „Kultes“ ersichtlich ist. Wenn man die Bezeichnung „Kult“ (im Sinne von „Kultus“) wenigstens kurzfristig auch für die Philatelie zulässt, dann mag man als eine solche Paraphernalie auch ein Attest von einem Altmeister der Prüferzunft, von Max Thier, gelten lassen. Es handelt sich um ein Attest für ein allseits voll- bis überrandiges „Savoyer Kreuz“ (Neapel, MiNr. 9) mit übergehendem „Annulato“-Stempel auf Zeitungs-Ausschnitt. Es sind wohl einige noch frühere Atteste für Philatelistisches erhalten geblieben, es dürften aber nicht sehr viele sein. Dieses Los Nr. 238 ist außerdem von zwei weiteren, moderneren Attesten begleitet. Man wird nicht so verblendet sein, das Attest höher als die Marken zu bewerten. Aber einen Preisaufschlag sollte ein so frühes Zeugnis wohl schon wert sein.


1 Wie der Zufall (oder wer auch immer) es will, hat mir noch vor kurzem eine alte Photographie von Monsieur Harduin aus dem Jahr 1908 vorgelegen – mit handschriftlichem Verweis auf seine herausgehobene Redakteursstellung bei Le Matin und wohl eigenhändiger Signatur „H[enri] Harduin“. Daraus mag man den Schluss ziehen, dass die Beschriftung des Briefumschlags seinerzeit fehlerhaft (falsche Vornamens-Initiale „M.“) gewesen ist. Anderenfalls müsste man annehmen, dass es seinerzeit bei Le Matin in kurzer Folge (mindestens) zwei Chefredakteure gleichen Nachnamens gegeben habe; nicht sehr wahrscheinlich, aber auch möglich.

2Die Geschichte dieses einmaligen, wenn auch etwas derangierten Bogens habe ich anderenorts ausführlicher dargestellt: Hövelmann, G.H. (1997). Geschichte einer Legende: Der „Sachsen-Dreier“ im Komplettbogen. Deutsche Briefmarken-Zeitung, 72(4),19-22.
Natürlich hatten auch Kollegen seinerzeit die Feder gespitzt und Zitables hervorgebracht.

Rares Und Kurioses

Nach mehreren Jahrzehnten Marktbeobachtung wäre es erstaunlich, wenn einem bei der Durchsicht aktueller Auktionsangebote nicht das eine oder andere merkwürdig vertraute Stück begegnen würde, das Erinnerungen weckt oder Assoziationen hervorruft. Mit gutem Archiv oder gutem Gedächtnis kann man manches, das Anderen wie eine Neuentdeckung erscheint, per Handschlag als alten Kameraden willkommen heißen. Kenner werden außerdem verstehen, dass und weshalb sich dieser Eindruck bei einem postgeschichtlich immer so vielfältigen Angebot wie dem einer Schwanke-Auktion mit einiger Regelmäßigkeit einstellt. Ich greife im Folgenden nur vier der diesmaligen Schwanke-Specials heraus – einerseits, weil sie es als hervorhebenswerte philatelistische Exemplare allemal verdient haben, zum anderen, weil ich entweder gewisse Erinnerungen mit ihnen verbinde oder weil sie besondere Assoziationen wecken, die hier kurz auszubreiten vielleicht auch für Andere von Interesse ist.

Beim letzten Verkauf war ich dabei

Der 9. November 1991 war ein Samstag. Wiesbaden, Boker-Preußen-Versteigerung, kein Sitzplatz frei hinter mir im Saal: Mit den Losen 40 und 41 ruft Auktionator Volker Parthen zwei sehr seltsame preußische Briefe auf, die selbst erfahrenere Preußen-Sammler stutzen lassen: Beide tragen nämlich rückseitig Bogenränder der 1 Sgr. schwarz a. rosa (MiNr. 2) bzw. der 2 Sgr. schwarz a. blau (MiNr. 3), die keinerlei Druck aufweisen und bei denen es sich offensichtlich um Teile der unbedruckten Randstreifen dieser preußischen Freimarken handelt. Das erstgenannte Stück mag man wegen seiner Position auf dem Brief noch als amtlich entwertete Verschlussmarke deuten (es gibt noch einen zweiten, ähnlichen Brief aus der Auflösung der 2. Metzer-Sammlung).

Der zweite Beleg ist noch ungewöhnlicher. Denn das unbedruckte Randpapier der 2-Sgr.-Marke, das dieser Brief trägt, kann nicht zum umseitigen Briefverschluss gedient haben, haftet aber fest und original auf der Rückseite eines Zirkulars und trägt, wie die eigentliche Franktur, einen sauberen Abschlag des Nummernstempels „557“ von Gumbinnen. Orts- und (umseitig) Ankunftsstempel sind beigesetzt.

Schon im Vorfeld der Versteigerung war dieser Brief damals unter Preußen-Liebhabern Gegenstand kontroverser Diskussion gewesen, denn für die rückseitige Verwendung und die (auf das Briefpapier übergehende) Abstempelung des unbedruckten blauen Markenrandes auf der Briefrückseite gibt es keine nachvollziehbare postalische Erklärung. Dass es diesen feuchten Papierrest einer vorhergehenden regulären 2-Sgr.-Markenverwendung auf die Rückseite des Briefes verschlagen hat, mag man ja noch als Zufallsereignis glaubhaft finden. Das eigentlich Absonderliche ist aber gar nicht das Vorhandensein des unbedruckten Markenrandes auf der Rückseite. An einem Postschalter mag es vorgekommen sein, dass der Absender eines Briefes oder der Beamte selbst den Beleg versehentlich auf einen „Papierrest“ auf der Schaltertheke gelegt hat und dass dieser Papierrest auf Dauer haftengeblieben ist. Insoweit ist postalisch alles noch leidlich in Ordnung oder doch tolerabel.

Zum spannenden Problemfall wird dieser Beleg erst dadurch, dass der Postbeamte diesen Papierrest dann doch bemerkt, ihn zwar nicht als Freimarke der längst ausreichenden Frankatur hinzurechnet, ihn ansonsten aber doch wie eine Freimarke behandelt und mit einem Ringstempel „entwertet“ hat, damit nicht jemand auf den Gedanken verfalle, ihn zu eigenen Zwecken weiter zu verwenden.

Der Abschlag eines postalischen Stempels, eines preußischen zumal, ist eine hoheitliche Handlung. Mit einem solchen hoheitlichen Akt ist im vorliegenden Fall ein durch Vorgesetzte sanktionierbares Missgeschick in ein immerhin noch „amtlich zur Kenntnis genommenes“ Malheur abgemildert worden. Den Brief mit anhaftendem Bogenrand und mit dem örtlichen „Vernichtungsstempel“ (wie die preußischen Nummernstempel amtlich hießen) in die Welt hinausgehen zu lassen, mag dem Postbeamten als „das kleinere Übel“ erschienen sein, das er seinem Vorgesetzten notfalls noch eher hätte erklären können als ein völliges „Übersehen im Amt“, mithin eine durchaus gröbere Fehlleistung. So ganz nach dem Buchstaben der Postverordnung mag die Handlungsweise des Beamten wohl nicht gewesen sein; aber zum Vorteil der Post, des Postkunden und schließlich auch des Beamten selbst war sie schon.

Ein solcherart behandelter Beleg bleibt ein postamtlich und damit hoheitlich behandeltes postgeschichtliches Dokument, das auf eine spannendere Geschichte verweist als es einerseits ein ordnungsgemäßes Exemplar, andererseits die postseitige Ignorierung des rückseitig anhaftenden Markenrests je hätten sein können. Da die Orte der drei bekannten Fälle preußischer Ringstempelung von unbedruckten Markenrändern geographisch weit gestreut sind, besteht sicher keine realistische Gefahr einer Absprache oder einer nachträglichen Manipulation. Auch das ist einer der Gründe, weshalb ich damals, im November 1991, im Wiesbadener Auktionssaal auf diese Zwillings-Belege mitgeboten, es aber nicht all zu weit getrieben habe. Ich habe zwischenzeitlich mehr als einmal bedauert, nicht ausdauernder gewesen zu sein. Aber ich hatte so eine Ahnung, als würden wir uns noch einmal begegnen.

Der Anruf – oder: Elf grüne Oktogone

Das beliebte Kartenspiel „Elfer Raus“ hatte in den frühen 1960ern eine grüne Kunststoffhülle – und die heutige Version kommt, wovon ich mich gerade habe überzeugen dürfen, noch immer in einem kräftig grünen Pappschuber daher. Ob das „nur so eine komische“ Assoziation ist oder mehr, mag entscheiden, wer sich dazu berufen fühlt. Den Elferblock der grünen britischen Oktogone (SG 54-56) zu sehen und mich an die Kartenbox meiner Vorschul-Kindheit zu erinnern, war jedenfalls eins. Da einer der Elfer-Raus-Partner aus Kindertagen ein halbes Jahrhundert später in England lebt und die Briefmarken der neuen Heimat sammelt, ist jedenfalls nicht mehr als ein Zufall. Weniger zufällig ist, dass es mir selbstverständlich schien, ihn kürzlich während eines Telefonats eigens auf die spektakuläre britische Markeneinheit im Schwanke-Angebot anzusprechen. Das Telefonat ging, kaum geschönt, etwa folgendermaßen. Die Leitung war schlecht, es begann schon nicht vielversprechend, und es wurde dann übler. Charakteristische Auszüge:

„Oktogone? Ach, du meinst Preußen“
„Nein, nicht Preußen. Groß-bri-tan-ni-en, die 1 Schilling von 1847. Kennst Du doch.“
„Wie, nichts Besonderes? Im gestempelten Elferblock schon, oder?“
„Was? Vergiss doch mal Elfer Raus für einen Moment. Und hör zu: Ich sprach von ‚Elferblock’. 1 Schilling grün 1847. Elf Stück aus der Bogenecke.“
„Nein, rechte untere Ecke.“
„Allerdings.“
„Will ich doch hoffen.“
„Jaja, tadellos, wirklich eindrucksvoll. 1 Schilling grün!“
„Nein, nicht ‚schön’. Doch doch, das auch. Aber ich meinte grün, Grü-hün. Sieht aus wie ein arabischer Teppich oder portugiesische Kacheln. Nur schöner.“

Der Kollege ist halt nicht so flink. Aber wenn er mal was begriffen hat, ist er schnell Feuer und Flamme. Und er hat tatsächlich eine tolle GB-Sammlung. Der 11er-Block der 1 Sh. „Grühün“ würde dort prima hineinpassen.

Drin ist drin bleibt drin…

Manche sachlichen Fehler, die aus unerfindlichen Gründen einmal in den MICHEL-Katalog geraten sind, wirst du nicht mehr los. Vor allem dann, wenn sich für die Aufnahme ein womöglich längst verblichener Prüfer verbürgt hat. Drin ist drin bleibt drin! Egal, wem man schreibt; egal, mit wem man spricht. Nichts spricht derzeit dafür, dass es der von Schwanke als Los 150 angebotenen griechischen Ganzsache P54 anders ergehen könnte. Die Inlands-GA zu 10 Lepta von 1946 kam laut MICHEL aufgrund der Inflation nicht mehr zum Verkauf. Erst zehn Jahre später [mithin 1956] wurde sie als Formblatt postamtlich aufgebraucht.

Das in der Auktion angebotene, im Jahr 1947 bedarfsmäßig gebrauchte Exemplar mit aufwendiger Zusatzfrankatur und Militärzensur im Auslandsverkehr nach Hamburg – attestiert, versteht sich – widerlegt die Katalogweisheiten. Beachtung verdient allerdings die Absenderangabe: Das Athener Unternehmen „Paleologo“ betrieb seit 1946 die „Paleologos Shipping Agency“, die den Fährverkehr zwischen Griechenland und Italien bediente. Das mag dem Entstehen dieses Belegs förderlich gewesen sein.

10c. USA

Spektakuläre Teilgezähnte Abarten verstecken sich bisweilen, und es erfordert dann einigen Aufwand, sie sichtbar und philatelistisch glaubhaft zu machen. So erfordert beispielsweise das Erkennen von Wasserzeichen-Abarten oder Papierdicken-Varianten oder Markenfarbenunterschieden häufig einen beträchtlichen apparativen Einsatz. Die Feststellung und Identifikation von Zähnungsabarten stellt dagegen – sofern es sich nicht lediglich um geringfügig abweichende Zähnungsmaße handelt – im allgemeinen kein Problem dar. Ob eine Marke Zähne hat oder nicht, ob sie teilweise oder vollständig fehlen, ist in der Regel leicht festzustellen. „Der Sammler sollte zur eigenen Sicherheit“, so habe ich an dieser Stelle vor vier Jahren geraten, „darauf achten, Zähnungsabarten zu erwerben, bei denen die fehlende Zähnung zum Bogenrand hin (oder bei Markeneinheiten zwischen den Marken) liegt. In jedem Fall aber sollten die erhalten gebliebenen Markenränder so großzügig bemessen sein, dass der Verdacht, jemand habe sich mittels einer Schere der lästigen Zähnung entledigt, gar nicht erst aufkommt.“

Das sind jedoch bloß einige formale Kriterien, denen eine salonfähige Ungezähnte nachkommen sollte. Darüber hinaus ist es wenigstens nicht hinderlich, wenn die Marke in irgendeinem, individuell sicher variierenden Sinne als mindestens „attraktiv“, wenn nicht als „atemberaubend“ bezeichnet werden darf, und wenn sie außerdem nicht schon an jeder philatelistischen Ecke herumsteht.

Eine solche philatelistische Bordsteinschwalbe, die mit Jedem mitgeht, ist die als drittletztes Los der Schwanke-Specials offerierte amerikanische Wappen-Adler-Marke (Eagle and Flags) ganz sicher nicht. Schon ein normaler Einzelwert dieser 10 c. gelborange, 1869, der USA (Scott-Nr. 116, MiNr. 30) ist mehr als schlichte Alltagskost. MICHEL und SCOTT kennen nun aber überhaupt keine nennenswerten Besonderheiten dieser Marke, geschweige denn ein attraktives, oben ungezähntes Exemplar vom oberen Bogenrand mit Plattennummer „15“ und einem für US-Verhältnisse sauberen Target-Stempel, der zudem das Markenbild und den unperforierten Übergang von Marke zu Oberrand weitgehend freilässt. Optisch wäre dies auch ohne Abart und trotz der im Text erwähnten Erhaltungsmaßnahmen schon ein weit über dem Durchschnitt liegendes Stück. Mit der Zähnungsabart aber ist diese Marke sicher einzigartig. Mir ist von diesen US-Ausgaben nichts Vergleichbares bekannt.

Gerd H. Hövelmann