Bulletin

Aspekte zur Hamburger Postgeschichte (1): Die frühesten Kaufmannsbriefe aus HAMBURG

Spricht man von ganz frühen Briefen aus Hamburg, so fallen Historikern frühe amtliche oder kirchliche Dokumente ein, Dokumente, die durch amtliche, vom Magistrat angestellte Boten in andere Städte, zu Fürsten, Königen und Kaisern befördert worden sind. Solche Dokumente sind in aller Regel nur in Museen zu sehen oder liegen in staatlichen Archiven.

Zeugnisse erster, einigermaßen regelmässiger Postverbindungen von Hamburg sind erst aus dem 16.Jahrhundert bekannt. Hier geht es um Briefe, in denen Kaufleute untereinander in Verbindung traten und dieser Informationsaustausch durch staatlich oder private geregelte Botendienste bewerkstelligt wurde. Diese frühesten Kaufmannsbriefe aus Hamburg wurden erst bekannt, als in den 1980er Jahren das „Corsini-Archiv“ auf den philatelistischen Markt kam.

Die Corsini – Korrespondenzen

Die Corsinis waren eine Kaufmannsfamilie, deren Aktivitäten bereits um 1300 in Florenz nachzuweisen sind. Bereits in dieser Zeit entwickelt sich in den oberitalienischen Städten aus dem frühen Tauschhandel des Mittelalters ein neues Wirtschaftssystem, dessen Zielsetzung es ist, dass aus dem Handel mehr Zugewinn entsteht, dass aus Geld mehr Geld wird: Der Kapitalismus…. Schon bald reichen die Verbindungen der Kaufleute und ersten Bankiers in Italien weit über die Landesgrenzen hinaus.

Auch in London gründen die Corsini eine Niederlassung.

Zinn aus Cornwall, Sardinen aus Looe, Elefantenzähne und Neufundland-Kabeljau aus Plymouth, Tuchwaren aus Colchester und Norwich, Heringe aus Yarmouth: Die Corsinis kaufen und exportieren englische Produkte nach ganz Europa.

Im Gegenzug kommen Waren aus gut hundert europäischen Städten nach London. Insbesondere Stoffe und feste Tuche („Fustian“ oder Berchent, ein fest gewebtes Tuch, aus dem besonders Arbeitskleidung hergestellt wird und das als „Jeans“ oder „Denim“ (de Nimes) später weltberühmt wird), aus Florenz und Venedig kommt Seide, aus der die Roben Königin Elisabeth I. gemacht wird und die William Shakespeare für die Kleider seiner Schauspieler im Globe Theater verwendet.

Sie waren Bankiers und hatten Niederlassungen in Augsburg, Lyon, Köln oder Venedig.

Piraten und Wegelagerer waren ihre ewigen Gegenspieler, wovon viele Berichte Zeugnis ablegen. 340 Handelshäuser in 100 Städten korrespondierten mit ihnen, von Lissabon bis Danzig, von Malta bis Middelburg. Die Briefe wurden mit der „Merchants Strangers Post“, der „Merchant Adventurers Post“, der Thurn & Taxis` schen Post oder anderen Transportunternehmen befördert, sie benutzten allgemeine Botendienste oder ihre eigenen Kuriere, von Florenz über Pisa, Mantua, Nürnberg, Köln, Brüssel und Calais.

Spanien kämpfte gegen Wilhelm von Oranje in den Niederlanden, französische Könige wurden ermordet, Katholiken brachten Hugenotten um und umgekehrt. Die Spanische Armada kam und verschwand…

Und immer gingen die Geschäfte weiter, mit wenig mehr als einem kurzem Blick auf die blutigen Gemetzel um sie herum.

Dass wir heute einen so vorzüglichen Einblick in die Kaufmannswelt des 16.Jahrhunderts haben, verdanken wir dem glücklichen Umstand, dass das Archiv der Firma Corsini in London im Großen Brand von 1666 (bei dem vier Fünftel der City of London in Schutt und Asche gelegt wurden) nicht zerstört wurde.

Die Briefe waren zum Teil vorausbezahlt, aber meistens wurde das Beförderungsentgelt dem Konto des Absender belastet. Es etablierten sich die „Forwarding Agents“, es gab Routen- , Kurier- und Tax-Vermerke, Schiffsbriefe und sogar „Einschreiben“ ….

Es ist der Zeitraum von etwa 1580 bis 1600,

auf den wir durch die Corsini-Korrespondenzen einen Blick auch auf das Leben und Treiben in Hamburg und das Handeln seiner Kaufleute bekommen.

Eine kleine Zeittafel aus der Hamburger Geschichte notiert folgende Denkwürdigkeiten:

1577: In der Hamburger Börse wird ein Postmeister eingestellt, der ein- und ausgehende Boten kontrolliert und in dessen Haus Briefe abgegeben werden können.

1584: Schwere Sturmflut, Bruch des Hammer Deiches

1588: 24 Wochen ununterbrochener Regen. Sturmflut, Deichbrüche.

1589: Der Nikolai-Kirchturm brennt nach einem Blitzschlag ab.

1590: Im Auftrag des Hamburger Rates bezieht ein Kapitän Warnecke auf der Elbe vor Stade Wache, um Hamburger Schiffer daran zu hindern, in Stade ihre Ladung zu löschen, die in Hamburg dringend gebraucht wird.

1593: Sturmflut. 40 Schiffe mit Korn gehen in der Nordsee unter.

1598: Starker Winter. Man kann über das Eis nach Dänemark laufen. Die Pest in Hamburg hält an.

1600: Durch Eingriffe in den Elblauf wird mehr Wasser in die Norderelbe geleitet und den Schiffen damit mehr Tiefgang verschafft. Hamburg hat jetzt 40.000 Einwohner.

In den Briefen lesen wir zum Beispiel Berichte über Geschäfts-Transaktionen, die der Absender für die Corsinis getätigt hat, finden Auflistungen über die Güter, die mit dem jeweiligen Schiff transportiert werden, aber auch Berichte über die allgemeine Geschäftslage.

Die Briefe wurden durch Schreiber in den Kaufmannskontoren angefertigt, auf gutem Papier, oft mit schönen Wasserzeichen. Jeder Brief wurde gefaltet und gesiegelt und oftmals mit einer Schnur verschlossen, die durchgeschnitten werden musste, um den Brief lesen zu können. So war sichergestellt, dass kein Unbefugter von außen auch nur einen kleinen Teil des Inhaltes lesen konnte.

Um die hohen Risiken des damaligen Transportes zu verringern, schlossen sich oft mehrere Kaufleute zusammen und versandten ihre Waren auf verschiedenen Schiffen. Die Ballen und Kisten wurden mit Kaufmannszeichen versehen, die ebenfalls in den Briefen notiert wurden. Sendungen für einen Empfänger, die in mehreren Schiffen angekommen waren, konnten so am Bestimmungsort leicht wieder zusammengeführt werden.

Die begleitenden Kaufmannsbriefe wurden in der Regel in Kopie oder sogar mehrfach ausgefertigt und so auf verschiedenen Schiffen zum Empfänger transportiert. Unter den von mir untersuchten 20 aus Hamburg stammenden „Corsini“-Briefen fand ich zwei Stück gleichen Datums und etwa gleichen Inhaltes, jedoch war ein Brief in Hamburg, der andere in Stade geschrieben worden (!) – siehe unten.

Es handelt sich ausnahmslos um Schiffsbriefe

bei den von mir untersuchten Hamburger Corsini-Briefen.

Sehr oft wird die Beförderungsmöglichkeit benannt: „Con la Nave de…“ (Es folgt der Name des Kapitäns, der meist auch Schiffseigner war), hinzugesetzt in der Regel eine Beschwörungsformel wie „che lo dio salve“ (also etwa „Den Gott beschütze“).

Ein paar Bemerkungen zu den auf den Briefen regelmäßig wiederkehrenden Signaturen und Zeichen:

Vorder- oder rückseitig finden sich kleine handschriftliche Kürzel, die wohl den Absendern zuzuordnen sind. Robson Lowe bezeichnet diese als „Writers` Manuscript Endorsements“. Die in seinen Ausarbeitungen vertretene Meinung von Giorgio Migliavacca, es handele sich um die Benennung des jeweils zu wählenden Kurierdienstes kann ich nicht teilen. Da es sich bei den Hamburger Briefen um Schiffsbriefe handelt, war ein Kurier nicht von Nöten. Vielmehr glaube ich, dass es Kürzel des/der jeweiligen Schreiber sein könnten. Dies wäre dann vielleicht zugleich eine Art „Kontrollsignatur“ für den Kaufmann.

Auf der Rückseite ist fast immer ein Empfangs-„Registraturvermerk“ der Firma (Bartolomeo) Corsini zu finden, der in der Regel den Absendernamen sowie Absende- und Ankunftsdatum umfasst. 

Darunter ist meistens ein „Gebührenvermerk“ zu sehen, der auf allen untersuchten Hamburg-Briefen ähnlich ist.

Auch hierzu gibt es verschiedene Interpretationen.

Ich denke, die Kürzel könnten „p.q./3“ lauten, also „per questa/3 (pence)“, die im Hause Corsini dem Konto des Absenders „abgelastet“ wurden. Ein solches Abrechnungsverfahren war zumindest bekannt, in einigen Briefen der Corsini-Korrespondenzen haben sich jedenfalls Geschäftspartner über (hohe) Portokosten beschwert.

Sehen wir uns jetzt einige Briefe im Detail an:

 

 Zwei typische Corsini-Briefe aus den Jahren 1585 und 1586, beide an Bartolomeo Corsini „in Londra“ adressiert. Mit Zusatz des Schiffes bzw. des Schiffseigners „Con la nave hari Grimbarch“ bzw. „con ricardo harper“ und der Formel „i dio salvi“ (in etwa: den Gott beschütze). Am Oberrand der Briefe die oben beschriebenen „Writers` endorsements“.

Registraturvermerk des Empfängers: „D´Amborgo bzw. „D´Ambo“, dann das Datum und der Name des Absenders (Mart.Enzesperger bzw. Gilis de Grane. Unter diesen Notizen m.M. die Portoablastung auf das Konto des Absenders: „p.q./3“ (per questa/3). Diese Vermerke sind auf allen mir vorliegenden hamburger Briefen an Corsini gleich. Die Portogebühren wurden dem Konto des Absenders im Hause Corsini belastet.

Noch einmal Abbildungen von rückseitigen Registratur-Vermerken. Die inhaltliche Signatur ist immer gleich: „p.q./3“ (=per questa/3[pence]).  Ich vermute, dass dieser Betrag dem in der Firma Corsini geführten Kontokorrentkonto des Absenders belastet wurde.

Kaufmannszeichen, die zur Kennzeichnung der Güter (Ballen und Kisten) dienten. Die Kaufmannszeichen wurden auch oft  auf der Adressseite der Briefe angebracht. 

„Delle due balle fustani delle regine del maestro Cipoletti di Cremona …“ – Zwei Ballen Fustian vom Meister Cipoletti aus Cremona – Kleider für die Königin [Elisabeth I]! Aus einem Brief von 1595 an Bartolomeo Corsini.

Dieser Brief ist stark gebräunt. Dies rührt von der Desinfektion gegen Seuchen her. Die Briefe wurden auf ein Rost in einem Kasten gelegt, darunter wurden Kräuter angezündet. Die Dämpfe sollten alle Krankheitskeime „ausräuchern“. Pest und Cholera waren um 1600 in Europa sehr gefürchtet. In Hamburg wird im Staatskalender von 1598 die Pest erwähnt.

 

1596, 19.November. Ein höchst bemerkenswertes Brief-„Paar“: Beide Briefe gleichen Datums, von „Alessandro Rocha u. Giobat. Ghinucci“ an Bartolomeo Corsini in London adressiert. Gleiches Inhaltsverzeichnis über verschiedene Waren (von verschiedenen Handelshäusern), die in 4 Schiffen versandt wurden. Der linke Brief wurde in Hamburg, der rechte jedoch in Stade aufs Schiff gegeben! Ein schönes Beispiel, welche Methoden die Kaufleute anwandten, um die erheblichen (Transport-)Risiken zu verringern.

Literatur:

Auktionskataloge: Christie` s Robson Lowe „The Corsini Correspondence“, London 4.9.1984,

Philatelist and PJGB (Philatelic Journal of Great Britain), hrsg. Robson Lowe, London. 1984-85, Vol. 4, No.3-4, Vol 5, No.6, Vol. 6,

dto. „Postal History 16th-18th Century“ Zürich 17.-18.4.1985

dto. „The Postal history of Western Europe and the Mediterranean 1539-1884“ Zürich 4.11.1986

Zum weiteren Studium der CORSINI-Korrespondenzen empfehle ich Ihnen auch einen im Jahre 2020 in der DBZ Nr.17 erschienenen Artikel von Michael Burzan. Dieser Artikel enthält viele zusätzliche historische Informationen, doch bleibt auch hier die Deutung der verschiedenen Zeichen, Abkürzungen und Hinweise auf den Corsini-Korrespondenzen oftmals im Unklaren. Postgeschichtler haben diesbezüglich sicher noch manche harte Nuss zu knacken!

Hier finden Sie den Artikel von Michael Burzan: 

DBZ-17-20-Corsini-A

Die Mischfrankaturen des Schwarzen Einsers von BAYERN

Die überraschende Entdeckung einer Bayern-Preziose von Weltrang.

Man mag es nicht für möglich halten, was für ein Fund bei der Durchsicht alter Akten um die Jahreswende 2017/2018 zu Tage gefördert wurde, und ich traute meinen Augen kaum, als mir das Stück dann übergeben wurde: Eine Mischfrankatur der Schwarzen Einser mit zwei Exemplaren ihrer Nachfolgerin, der 1 Kreuzer-Marke in rosa, auf einem wundervollen kleinen Privatbrief von Bayreuth nach Münchberg adressiert!

An der Echtheit dieses Stückes bestanden für mich überhaupt keine Zweifel, und als ich das Stück meinem alten Freund Wolfgang Jakubek zeigte, bestätigte er sofort meine Meinung und er erzählte mir sogleich eine Geschichte aus seiner Erinnerung, bei der es – wie sollte es anders sein – eben auch um eine Mischfrankatur mit der 1 Kreuzer schwarz ging. „Wolfgang, das musst Du sofort aufschreiben“, sagte ich, und so geschah es auch. „168 Jahre Dornröschenschlaf“ lautet die Überschrift dieser Story, die dann im April 2018 im BRIEFMARKEN-SPIEGEL erschien. Am Schluss dieses Bulletin-Beitrages lesen Sie vielleicht selbst diese Geschichte.

Wie viele Mischfrankaturen mit dem Schwarzen Einser gibt es denn nun wirklich? Das interessierte mich doch sehr, und ich machte mich daran, einen kleinen „Zensus“ zusammenzustellen. In dem vorzüglichen Buch „Schwarzer Einser“ von Joachim Helbig und Jürgen Vogel sind ein paar Stücke erwähnt und abgebildet, darüber hinaus habe ich dem Verbandsprüfer für das Gebiet „Bayern Klassik“, Herrn Peter Sem, für seine Unterstützung sehr zu danken.

Die wenigen Stücke kann man in zwei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe nenne ich einmal „Ergänzungsfrankaturen“. Die 1 Kreuzer schwarz wurde in der Regel als Einzelfrankatur auf Ortsbriefen verwendet, seltener „per 3“ als Drei-Kreuzer-Frankatur für Fernbriefe und es gibt auch einige Briefe mit sechs Exemplaren der 1 Kreuzer schwarz, eben als Sechs-Kreuzer-Frankatur für Briefe einer weiteren Entfernungsstufe. Und wenn man 6 Kreuzer frankieren muss, nimmt man normalerweise eher eine 6 Kreuzer-Marke als sechs „kleine“ 1 Kreuzer-Marken. Aber es gibt eben auch einige wenige Ergänzungsfrankaturen:

Die zweite Gruppe sind die  „Mischfrankaturen gleicher Wertstufen.“ Solche Kombinationen kommen zustande, wenn im Postbetrieb gerade die eine Sorte 1 Kreuzer-Marken verbraucht war und dann die neue Sorte (in diesem Falle also die rosa 1 Kreuzer-Marken) hinzugenommen werden musste. Das sieht dann in etwa so aus:

Der guten Ordnung halber sei erwähnt, dass Herrn Sem noch ein weiterer Brief mit Mi.Nr. 1 I und Nr. 3 I (also einer 2-Kreuzer-Frankatur) bekannt ist, der schon auf Grund der Portostufe „sehr erklärungsbedürftig“ wäre.

Sie sehen, es ist eine sehr überschaubare Zahl. Man darf gespannt sein, ob und wann „Dornröschen“ ihren ersten Auftritt auf einer Auktion hat.

Hier nun der oben angekündigte Artikel von Wolfgang Jakubek „168 Jahre Dornröschenschlaf“ aus dem BRIEFMARKEN-SPIEGEL:

Eine kleine Schlussanmerkung: Aufgrund dieser Veröffentlichung im BMS gab es Leserzuschriften, in denen sich z.B. Herr Dr.Karsten Uhde mit der genauen Datierung des Briefes befasste. Wolfgang Jakubek datierte in seinem Artikel den Brief auf „1850“, womit der Verwendungstag „24.11.“ der bisher bekannte früheste Verwendungstag der 1 Kreuzer rosa wäre. Herr Dr. Uhde führt aber gute Gründe an, wonach der Brief auch aus 1851 stammen könnte. Es bleiben also noch Rätsel zu lösen…

FERIENLEKTÜRE

Liebe Freunde, was war das für ein Sommer 2018!

Es war doch bei der Hitze eigentlich schlecht möglich, sich mit Briefmarken zu befassen. Vorzuziehen war es allemal, sich mit einem Buch und einem anständigen Aperitivo in den Strandkorb zurückzuziehen. Dass es bei meiner Strandlektüre dennoch auch um die Philatelie ging, mögen Sie mir nachsehen. . Aber – ganz ehrlich – akribisch zusammengestellte Kompendien über das Schuhwerk von Landpostboten oder neu entdeckte Abarten der Notopfermarke zu studieren, ist nicht so richtig „mein Ding“. Die Bücher, die ich Ihnen vorstellen möchte, sind eigentlich dem Bereich „Belletristik“ zuzuordnen.

 

Stamp of the Century

Dies ist ein bemerkenswertes Buch. Es geht um die „Inverted Jenny“, den kopfstehenden kleinen Doppeldecker auf der ersten amerikanischen Flugpostausgabe, der 24c.-Marke aus dem Jahre 1918.

Über die Marke ist soo.. viel geschrieben worden, auch einige Bücher. Doch dieses neue Buch, erschienen zum „100.Geburtstag“ , fasst alles noch einmal zusammen, was zu dieser Marke wissenswert ist.

Da ist zunächst die Entstehungsgeschichte dieser berühmtesten amerikanischen Briefmarke, die im Mai 1918 aus Anlass des ersten Luftpostdienstes zwischen Washington, Philadelphia und New York erschien.

In bisher unbekannten Fotos lernen wir den glücklichen Finder, William Robey, kennen, der den Bogen mit der kopfstehenden Jenny am Postschalter erwirbt (und es sollte der einzige Bogen bleiben), der ihn dann an den Briefmarkenhändler Eugene Klein in Philadelphia verkauft und der wiederum ihn nur ein paar Tage später an „Colonel“ Edward H.R.Green veräußert.

Green trennt sich einige markante Blockstücke aus dem Bogen heraus und übergibt den Rest wieder an Eugene Klein zum Verkauf. Die Käuferliste der so vereinzelten Stücke liest sich wie das „Who is who?“ der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte.

Eisenbahn- und Ölmagnaten, Wall Street-Größen, Wirtschaftsprüfer und Kongreßabgeordnete werden vorgestellt; weit zurück zu den großen Familien des 19.Jahrhunderts und den Nachfolgern der Bürgerkriegsveteranen reichen die Recherchen der Autorinnen Kellen Diamanti und Deborah Fischer, die zudem eine Fülle bisher unbekannten Fotomaterials präsentieren können.

Eingebettet werden die Kapitel über die vielen stolzen Besitzer in die historischen Zeitläufte.

Die Entwicklung des Flugverkehrs und die damit zusammenhängende Entwicklung der Luftpostphilatelie – dargestellt in Schilderungen der großen philatelistischen Ausstellungen – ist ebenso Thema wie die grossen Katastrophen des 20.Jahrhunderts (z.B. der Depression von 1928 und den langen Schatten des 2.Weltkrieges), die ihre dramatischen Spuren hinterließen und ihre Auswirkungen auf Käufe und Verkäufe von Inverted Jennys hatten.

Ein weiterer Aspekt, den die Autorinnen ausgiebig untersuchen, ist die Preisentwicklung.

Die Inverted Jenny war zu keinem Zeitpunkt „billig“. Als Eugene Klein in Greens Auftrag im Jahre 1918 begann, die restlichen Stücke zu detaillieren, verlangte er 250 Dollar für ein vierseitig gezähntes Exemplar. Nach heutigem Gelde dürfte dies einem Kaufkraftwert von ca. 4000 Dollar entsprochen haben. Das war vor 100 Jahren für den viel zitierten „Normalsammler“ ein kaum erschwinglicher Preis.

Im 21.Jahrhundert auf Auktionen angeboten, erzielt eine Inverted Jenny Zuschläge ab 200.000 Dollar aufwärts, je nach Qualität; rekordbrechend der Zuschlag von 1.175.000 Dollar für eines der am besten zentrierten Exemplare auf der Raritäten-Auktion von Robert Siegel in New York 2016.

Man darf fragen, warum dieser Fehldruck solche Preise erzielt, zumal doch immerhin 98 der ursprünglich vorhandenen 100 Stücke als existent nachweisbar sind. (Der im Juni 2018 erreichte Preis von 270.000 CHF plus Auktionsaufgeld für einen „kopfstehenden Schwan“ Westaustraliens, von dem es nur 14 Stücke gibt, die Hälfte davon in Museen, mutet im Vergleich lächerlich an!).

Die Frage ist aber rhetorisch, genauso wie auch die Frage „Was wird die Zukunft für die kopfstehende Jenny bringen, bei der rapide schwindenden Zahl von Sammlern?“

Diamanti und Fisher geben auch gleich die Antwort: Heutige Käufer wollen nicht „nach alter Väter Sitte“ eine Lücke im Album schließen; ein spektakuläres Stück muss es sein, dem ein Zauber innewohnen sollte – „a thing with noise“, wie es der amerikanische Schuh-Designer Stuart Weitzman ausdrückte (der Käufer der 1c. Magenta von British Guiana).

Die Jenny Invert ist eben die meist ikonische Marke (und nicht nur auf die USA bezogen!) des 20.Jahrhunderts – The Stamp of the Century.

Stamp of the Century. Diamanti,Kellen u. Deborah Fisher. APS,Bellefonte,PA. 2018. 403 S., zahlr.Abb.,Tabellen,Karten. In englischer Sprache. Broschiert. ISBN 978-0-933580831.

Eine Erwähnung wert gewesen wären vielleicht noch die Fälschungen oder Nachdrucke der kopfstehenden Jenny – damit wäre dann ein Bogen geschlagen zum jüngsten Coup der amerikanischen Postverwaltung, nämlich die kopfstehende Jenny zum 100.Geburtstag als Kleinbogen von 10 Stück herauszubringen und in die Kleinbogen-Verpackungen 100 Stücke hineinzumischen, auf denen die Jenny eben nicht kopfsteht. („The NON-INVERTED Jenny Sheet“, jüngst verkauft bei Siegel, New York für 40.000 USD).

Noch ein kleiner Abschweif sei hier erlaubt: Frappierend gut gelungen war Peter Winters „Replik“ der kopfstehenden Jenny.  Wolfgang Jakubek hat die herrlich schräge Geschichte im vorigen Jahr im BRIEFMARKEN-SPIEGEL geschildert: „Der Opernsänger und seine Jenny“. Wenn Sie Spaß haben, lesen Sie diesen Artikel gleich am Anschluss an diesen Bulletin-Beitrag.

Zurück zur Ferien- und Strandlektüre:

 

A Million Dollars an Ounce

Das ist sie wieder – die kopfstehende Jenny, zumindest an prominenter Stelle vorn und hinten auf dem Broschurumschlag, und sie spielt auch wieder eine „tragende“ Rolle…Doch dazu später.

Was wäre, wenn das NS-Regime auch Briefmarken mit der gleichen „Gründlichkeit“ geraubt hätte, wie es dies mit Kunstgegenständen, Gemälden, Gold, Juwelen und anderen Wertgegenständen im 2.Weltkrieg tat?

In „A Million Dollar An Ounce“ von M.John Lubetkin ist genau dies der Ausgangspunkt einer Geschichte, in der sich Wahrheit und Fiktion zu einem rasanten Plot vermengen.

Als in den ersten Maitagen des Jahres 1945 das 3.Reich untergeht, flieht Hermann Seis, ein hoher Nazi-Funktionär und einer der Hauptakteure des Nazi-Programms zur Requirierung von Briefmarken, mit einem speziellen Gürtel um den Bauch, der den größten Teil der wertvollsten Stücke enthält. Er hofft, über die Elbe zu entkommen.

Aber in der Nähe von Ludwigslust ist die Flucht zu Ende – er wird gefangen genommen von US Army Capt. Harry Strong von der 82.Luftlande-Division. Strong, der – halbjüdisch – mit seinem Vater und seiner Schwester in den 1930er Jahren nach Amerika geflohen ist, spricht fließend Deutsch und er, der als junger Mensch Briefmarken gesammelt hat, „riecht den Braten“ und enttarnt mit seinem Team den flüchtenden, als Zivilist getarnten Hermann Seis.

Seis wird bei der Festnahme erschossen. Harry Strong nimmt die Marken an sich.

Die weitere Geschichte spielt sich überwiegend im New York der frühen Nachkriegszeit ab.

Strong, nunmehr im zivilen Leben zurück und auf der Karriereleiter einer Baufirma aufsteigend, verkauft die Briefmarken, mit der Hilfe eines bekannten Gangsterbosses, der Verbindungen hat (oder knüpft) zu Briefmarken-Experten, zu Auktionshäusern und – last but not least – zu israelitischen Organisationen wie dem Mossad (an den später Erlöse aus Harry`s Briefmarkenverkäufen gehen).

Zum Showdown kommt es, als der Bruder Franz des 1945 ums Leben gekommenen Hermann Seis, „seine“ Briefmarken zurückerlangen will. Franz Seis, wie sein Bruder ehemals in hoher SS-Funktion, arbeitet nach Verbüßung eines Teils seiner Haftstrafe eigentlich für die „Guten“, nämlich für die Gruppe Gehlen, dem späteren Bundesnachrichtendienst. Seis macht sich auf den Weg nach New York, er will neben seinen Briefmarken auch persönlich Rache nehmen für den Tod seines Bruders.

Mehr sei hier nicht verraten.

Ja, der „Plot“ ist insgesamt stimmig – so könnte es gewesen sein.

Lubetkin erzählt seine Geschichte in kurzen, szenisch wechselnden Abschnitten, die der Dynamik des sich entwickelnden und auf das unausweichliche Ende hinsteuernden Geschehens entsprechen.

Dabei gibt es aber für mich einige Schwächen.

Insbesondere die meisten Charaktere bleiben „leblos“ oder „hölzern“; mit seinem Helden, Harry Strong, kann ich mich bis zum Ende nicht identifizieren. Die „Bösen“ kann man von Herzen hassen. Harry`s Gegenspieler, der ex-SS-Offizier Franz Seis, erfüllt alle Klischees eines solchen Charakters aus bekannter NS-Literatur. Die anderen Bösen (die New Yorker Gangsterwelt) kommen da fast zu gut weg. Meyer Lansky, Lucky Luciano und Bugsy Siegel sind historische Gestalten, die nicht gerade mit Heiligenscheinen herumliefen. Klischeehaft sind auch die Sexszenen und die Beziehungs- und Liebesgeschichten, die Stereotype verarbeiten, wenn der Autor die nach dem 1.Weltkrieg herrschende Männerknappheit in England und Frankreich mit der Promiskuität deutscher Frauen nach 1945 als Vergleich bemüht.

Und dann spielen da natürlich immer die Briefmarken eine Rolle.

Lubetkin bemüht bekannte Namen. Col. H. Green (der als „Brown“ daherkommt) oder die Firma H.R.Harmer („they sold Roosevelt`s collection“) sind nur zwei davon; unglaubwürdig wird es, wenn Harry Strong Meyer Lansky beim ersten Zusammentreffen erzählt, von den „kopfstehenden Jennies“ hätte er allein 7 Stück, darunter einen Viererblock!

Doch bei diesen kritischen Anmerkungen möchte ich es belassen.

Insgesamt ist es ein packender, aktionsgeladener Krimi, und es erfreut einen Philatelisten, wenn einmal die Briefmarke der „spiritus rector“ für einen Roman ist.

A Million Dollar an Ounce. Lubetkin, M.John. San Bernadino,USA, 2018. 363 S., broschiert. In englischer Sprache. ISBN-Nr.978-1-983417139.

Hier nun der oben angekündigte Artikel aus dem BRIEFMARKEN-SPIEGEL:

Nebenbei bemerkt, werden die beschriebenen Stücke aus der Produktion des Opernsängers gut auf Auktionen bezahlt – 400 bis 500 Euro wurden für einen solchen Viererblock schon auf den Tisch gelegt. Sollten Sie an einem solchen „Blöckchen“ interessiert sein, schreiben Sie mir und ich kann Ihnen ein Angebot machen. Die Marken sind einzeln vom Künstler rückseitig signiert, so dass – ein Schelm, der Böses dabei denkt – ein Missbrauch ausgeschlossen ist.

Last – but not least – noch einmal „Ferienlektüre“:

Es geht – weil wir gerade so schön dabei sind – noch einmal um „Millionen“.

Doctor of Millions.

The rise and fall of stamp king Dr. Paul Singer – so lautet der Untertitel des Buches von Seamus Brady, der als Reporter des „Daily Express“ den Aufstieg und Fall des Dr.Paul Singer schildert, als Zeitzeuge des spektakulären Zusammenbruchs der Shanahan-Auktionen und des darauf folgenden Gerichtsverfahren, das bis heute in der irischen Gerichtsbarkeit keine Parallelen kennt .

Die Geschichte katapultiert uns zurück ins Jahr 1954, als eben dieser Dr. Singer beim altehrwürdigen Auktionshaus Shanahan in Dublin über die Schwelle tritt und die Inhaber davon überzeugt, dass eine Abteilung „Briefmarken“ dem Auktionshaus nur Glück und Segen bringen kann. Singer ist der „Macher“, finanzielle Möglichkeiten schafft er durch sein „Ponzi-Schema“, und er ist es, der die sensationellsten philatelistischen Stücke „aufreißt“. Wenn man die Angebote der Shanahan-Kataloge ansieht, gehen auch „gestandenen“ Philatelisten heute noch die Augen über. Glanz und Gloria und rauschende Feste, bei denen kein Auge trocken bleibt,  die Firma erscheint regelmässig nicht nur in der Dubliner Tagespresse. Dr. Paul Singer, der 2-Meter-Mann, der sich feiert, und, wenn er von einer Akquisitions-Tour zurückkommt, seine Mitarbeiter Spalier stehen und einen fröhlichen Gesang „And he is a jolly good fellow…“ anstimmen läßt, ist eine eindrucksvolle Erscheinung!

Das Ende der glanzvollen Shanahan-Auktionen kennen ältere Philatelisten. Es war der bis dahin größte „Phila-Crash“ der Geschichte. Seamus Bradys Buch widmet sich aber besonders der (gerichtlichen) Aufarbeitung „danach“. Schon einmal zu lesen, mit welchen Argumenten und Tricks sich Singer in dem Verfahren selbst verteidigt, dürfte auch für heutige Juristen höchst spannend sein.

Philatelisten werden allemal auf ihre Kosten kommen.

Doctor of Millions. Seamus Brady. Tralee, Irland, 1965. 176 S., broschiert. In englischer Sprache. Nur antiquarisch erhältlich.