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Rares und Kurioses (5) – oder Die Kunst des Schauens

Es gibt wenigstens drei verschiedene Methoden, alle gleichermaßen bewährt, mittels deren der Interessent sich gründlich über die Schwerpunkte und Vorzüge, die Spezialisierungen und die Eigentümlichkeiten eines Auktionsangebots informieren kann. Zwei von ihnen dürfen als traditionell gelten, die dritte steht dank der technischen Entwicklung erst seit wenigen Jahren zur Verfügung. Sie alle haben ihre gesonderten Vorzüge, weshalb hier keiner der drei Methoden zu Lasten der jeweils anderen der Vorzug gegeben werden soll; sie alle lassen sich zudem sinnvoll und zeitökonomisch kombinieren.

Klassisch sind erstens die formalen Besichtigungsgänge (mit oder ohne vorherige Kenntnisnahme des Angebotenen) in den Hinterzimmern der Auktionsveranstalter selbst. Wann immer es sich realisieren lässt und es mutmaßlich den zeitlichen und organisatorischen Aufwand (Anreise, evtl. Hotelaufenthalt) lohnt, sind solche Besichtigungsgänge zweifellos eine gute Wahl, denn nur sie führen den Besichtiger und das Anzuschauende tatsächlich zueinander. Da die potentielle Auktionskundschaft heutzutage aber nur noch in Ausnahmefällen lokal dominiert ist, sondern sich vielmehr als wenigstens national, fast immer aber als international erweist, ist die direkte persönliche Auktionsbesichtigung längst nicht mehr der Regelfall. Vielmehr werden Gebots- und Kaufentscheidungen vorzüglich anhand der Eindrücke gefällt, die die Offerte im gebundenen, heute bisweilen luxuriös ausgestatteten Auktionskatalog generiert. Als dritte Option zur Kenntnisnahme des Auktionsangebots bietet sich (erst) seit einigen Jahren die Selbstunterrichtung anhand der Darstellung auf der Webseite des Auktionshauses an, die oft um elaborierte Download- und Vergrößerungs-Optionen ergänzt sind – vor allem Letztere sind ein vorbildlich einsetzbares ‚feature‘ auf der Homepage der Schwanke-Auktion.

Für welche dieser unterschiedlichen Weisen der Kenntnisnahme und Selbstvergewisserung (am besten für mehr als nur eine) man sich entschließen mag, ein Eindruck scheint leidlich konstant: Ganz gleich, welche Betrachtungsweise – Besichtigung, Katalog- oder Online-Studium – man wählt, man nimmt oftmals erstaunlich unterschiedliche Dinge wahr. Obwohl alle drei Arten der Betrachtung in der Regel mit großem Interesse, nachhaltiger Aufmerksamkeit und philatelistischer Sorgfalt betrieben werden, sieht der Interessent doch oft sehr verschiedene Dinge. Auch wenn sämtliche relevanten Merkmale in allen Darstellungsvarianten jeweils objektiv sichtbar sind, werden sie doch oft nur zu Teilen und manchmal gar nicht wahrgenommen. So funktioniert eben unsere gerichtete, d.h. von Interessen abhängige Wahrnehmung. Es scheint mir folglich ratsam, sofern der eigene Zeithaushalt es erlaubt, alle drei Betrachtungsweisen zum Zuge kommen zu lassen, und zwar nicht parallel, sondern nacheinander. Das mag zwar langwierig und ermüdend sein, und es hilft auch nicht immer sehr viel weiter, aber Sie werden sich häufig wundern, was Sie bei der einen „Ansicht“ Zug um Zug entdecken, das Ihnen bei den anderen Betrachtungsweisen vollständig entgangen ist.

Topstück einer neu entdeckten sächsischen Korrespondenz nach Australien, dazu eine spektakuläre 6-Farben-Frankatur nach Neuengland (wie sie z.B. in Preußen gar nicht herstellbar war; mehr als 5 Farben gingen dort nicht).

Zahlreiche ‚kleine‘ Spezialofferten

Nicht entgangen sind mir beim Studium des Angebots der 352. Schwanke-Auktion unter anderem – und vor allem – die ungewöhnlich zahlreichen, kleinen, aber gehaltvollen Spezialofferten (oft nur ein Dutzend einschlägiger Lose oder wenig mehr) aus vielen Gebieten der deutschen und internationalen Philatelie und Postgeschichte, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren wollen. Nur wenige einschlägige Beispiele können allerdings hier vorgestellt oder auch nur erwähnt werden. Entsprechend empfiehlt sich das genaue Studium des abwechslungsreichen Programms – ganz egal, auf welchem der vorstehend skizzierten Wege.

Neben den bereits abgebildeten raren Sachsen-Briefen im niederen bzw. hohen vierstelligen Euro-Bereich gefallen – sehr viel günstiger zu haben – beispielsweise ein halbes Dutzend Lose mit ausnehmend hübschen, je mit Zusatzfrankaturen verwendeten Ganzsachen Islands (Ausrufe: 120 bis 700 Euro). Klassische europäische und außereuropäische Ganzsachen, jeweils mit guten Zusatzfrankaturen und seltenen Verwendungen oder Abstempelungen, finden sich auch in anderen Bereichen der aktuellen Schwanke-Offerte in stattlicher Zahl. Wenn wir von Island kommend im Norden bleiben, nämlich bei Norwegen, fällt zunächst ein handverlesenes Angebot mit rund 20 spezialisierten Losen der (meist) Oskar-Ausgabe des Landes mit schönen Streifeneinheiten und Mischfrankaturen auf, dazu Wappen-Ausgaben in Buntfrankaturen; die Taxen liegen hier zwischen 90 und 1500 Euro.

Nie zuvor zu Gesicht gekommen sind mir Ländermischfrankaturen zwischen klassischen Freimarken Österreichs (Kreuzer-Ausgabe) jeweils mit britischer MiNr. 22 auf zwei Briefstücken, die noch erkennbar einstmals nach Thailand bzw. nach China adressiert waren. Zu einem Gesamtgebot ab 1800 Euro steht das Pärchen zur Verfügung.

Eher aus der geographischen Nähe, nämlich aus Stuttgart, stammen dagegen zehn Positionen zur Stuttgarter Stadtpost (Lose Nr. 1810-1819; Startpreise je zwischen 100 und 1000 Euro). Wer das Handbuch zur Stuttgarter Stadtpost von Horst Jaedicke kennt oder einmal eine einschlägige (Ausstellungs-)Sammlung gesehen hat, der kann nicht nur die postgeschichtliche Begeisterung für ein solches Gebiet nachvollziehen, sondern er weiß auch, wie attraktiv – und teils auch selten – Belege dieser lokalen Stadtpostbeförderung sein können. Das Schwanke-Angebot bestätigt genau dies.

 

Auktionseröffnend bietet übrigens Albanien mit einer Auswahl guter Einzelwerte und Besonderheiten der Erstausgaben einige interessante Aufmacher. Mehr als 60, teils spezialisierte Positionen weist sodann das Angebot für Altitalien und das italienische Königreich auf; darunter sind sowohl gute und attraktive Frankaturen und gesuchte Einzelwerte als auch interessante Abarten und andere Spezialitäten wie zum Beispiel eine ungebrauchte MiNr. 10II des Kirchenstaats (1500 Euro), der ungebrauchte Modena-Fehldruck Nr. 2IF (400 Euro) – der so unzweideutig ist, dass er mich selbst noch in Versuchung führt –, ferner Parmas MiNr. 2 im nicht ganz astreinen gestempelten Viererblock (Ausruf 1000 Euro bei 45,000 Michel) und die Zeitungsmarke Nr. 1 auf Zeitung (2000 Euro). Hinzu kommen gute Briefe Altitaliens – beispielsweise ein unfrankierter Brief vom offiziellen Ersttag der Lombardei & Venetiens vom 1. Juli 1850 (250 Euro) sowie seltene Streifen- und Blockeinheiten aus den 1860er und 1870er Jahren. Die Schätzpreise beginnen „italienweit“ schon bei 70 Euro und scheinen teils „am unteren Ende kalkuliert“.
Wunderschön (und ab gerade einmal 300 Euro zu haben) ist auch die folgende Dreifarbenfrankatur der Österreichischen Post in der Levante nach Venedig – für die durchschnittliche Qualität dieser Italien-Offerte durchaus charakteristisch.

Für besondere Highlights aus deutschen Landen sorgt beispielsweise die Auflösung der sogenannten Sammlung „Fürstenhagen“ der Sowjetischen Besatzungszone. Das Angebot umfasst ca. 180 Positionen, mit jeder Menge dauergesuchter Spezialitäten, die – gerade bei diesem Gebiet besonders wichtig! – mit aktuellen Prüfungen, Attesten und Befunden daherkommen. Die aufaddierten Schätzpreise dieser 180 Lose bringen es auf mehr als 50,000 Euro, und sie sind, wenigstens mehrheitlich, so taxiert, dass noch „Luft“ bleibt, um ein wenig draufzulegen. Für den Spezialisten sind hier potentiell wenige Wünsche offen, soweit überhaupt eine noch so spezialisierungsversessene Sammlung der diffizilen Vielfalt der Philatelie der Sowjetischen Besatzungszone gerecht werden kann. Auf rund zwei Dutzend Lose aus der Auflösung einer guten Forschungssammlung Helgoland (vorsichtige Gesamttaxe: über 6600 Euro) muss außerdem unbedingt hingewiesen werden.

Für den eingefleischten Postgeschichtler mit einer guten Spürnase mag ferner ein Preußen-Brief, mit der Kopfmarke MiNr. 9 und zwei Exemplaren der Wappenmarke MiNr. 14 wertstufengleich und portokorrekt freigemacht, von einigem Interesse sein. Denn spätestens beim zweiten Blick erschließt sich, dass alle drei Marken zuvor schon einmal verwendet und auch vorschriftsgemäß abgestempelt worden waren – damit wird dieser Brief zu einem Dokument und Beweisstück für einen nicht nur versuchten, sondern vollendeten und insofern gelungenen Postbetrug.

Natürlich enthält das Angebot noch etlich weitere spannende Kollektionen, Spezialobjekte und Einzelmarken und Belege, die eine gesonderte Vorstellung erlauben und rechtfertigen würden. Beispielsweise bietet sich da eine bemerkenswerte, noch junge russische Abart aus dem Jahr 1962 an: Eine Sondermarke zum 100. Geburtstag des aserbaidschanischen Schriftstellers A. Sabir, die ein Porträt des Literaten zeigt. Alles prima, nur – die Inschrift war fehlerhaft (AZERBAITSCHAYN statt AZERBAITSCHAN, MiNr. 2625 I, russischer „Standard“-Katalog Nr. A2661). Zwar wurde diese Marke sofort vom Verkauf zurückgezogen und durch eine Ausgabe mit korrigierter Inschrift ersetzt. Doch 250 Exemplare entgingen der Vernichtung. In der Auktion zu haben ist ein postfrischer Eckrandviererblock, der – wenn nicht einmalig, so doch – jedenfalls höchst selten ist (Ausruf: 5000 Euro). Wohl Seltener noch, wenn auch letzthin ein wenig aus dem Fokus gerückt, dürfte die hier gezeigte MiNr. 3IIx von Mauritius sein – die erste Mauritius-Marke, die historisch auf die beiden POST-OFFICE-Werte folgte, präsentiert sich in akzeptabler Erhaltung mit Nummernstempel-Entwertung („3“) auf Briefstück mit beigesetztem Rahmenstempel SOUILLAC vom 9. März 1854 auf einem größeren Briefstück (3000 Euro). Neusüdwales schließlich steuert ca. 15 sehr beachtliche klassische Einzellose, darunter ein paar erstaunliche Markeneinheiten (zwischen nur 90 und 750 Euro), zum Angebot bei, Peru ein zentrisch gestempeltes Luxusstück seiner ersten Briefmarke (1800 Euro).
Für alles weitere sind Sie gerne aufgefordert, einen oder mehrere der eingangs skizzierten Wege zu beschreiten und sich mit dem Angebot der aktuellen Schwanke-Auktion hinreichend vertraut zu machen.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (4)

– Unser Autor Gerd H. Hövelmann kommentiert –

Die schönsten Auktionskataloge…

…waren schon immer diejenigen, in denen den kundigen Betrachter nicht unbedingt bei jedem Umblättern sogleich eine Katalograrität anspringt (obgleich auch das nicht ausgeschlossen werden soll), sondern jene, bei denen auf fast jedes Blättern ein Innehalten folgt, ein nicht unbedingt erwarteter Moment der Aufmerksamkeit, der vom sofortigen weiteren Umschlag der Seiten abhält. Verantwortlich dafür ist beispielsweise ein Stück, das den Blick fesselt, weil es hinreißend schön oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich ist – sogar ohne dass man im ersten Moment genauer zu sagen wüsste, warum, und das, eben deshalb, den geschwinden Katalogsichtungsblick stocken lässt und zur genaueren Betrachtung und möglicherweise dann auch zu praktischem Handeln animiert.

Eine solche Art der unaufdringlichen, aber wirksamen Präsentation haben wir mit dem aktuellen Hauptkatalog zur 351. Schwanke-Auktion vor uns, die der Auflösung der Sammlung „Deutsche Postgeschichte“ des Hamburger Sammlers Jürgen Meinert gewidmet ist. Ich erlaube mir, einige Beispiele herauszustellen, die das vorstehend Gesagte illustrieren mögen.

Doch, doch, ein blauer Brief!

Zunächst einmal darf der Autor sich – kurzzeitig wenigstens – der Illusion hingeben, dass der Auktionator die folgenden beiden Briefe speziell für ihn beschafft und angeboten habe: Denn in der vorigen Folge von „Rares und Kurioses“ hatte der Verfasser vor einigen Wochen wenn nicht beklagt, so doch bedauert, dass die „blauen Briefe“ seiner Jugend alles andere, aber eben nicht blau gewesen seien. Obwohl dem mutmaßlich keine Absicht zugrundelag (aber wer weiß das schon?), wird es diesseits als eine besondere Freundlichkeit empfunden, dass der Auktionator mit Los-Nummer 146 für wirklich geringes Geld zwei Exemplare der berühmten tiefdunkelblauen Umschläge der Berliner Cabinetts-Expedition aufgeboten hat. Und was der Auktionator garantiert nicht wusste: Der Verfasser besaß vor rund 35 Jahren selbst eine kleine Spezialsammlung dieser auffälligen preußischen Postkuverts, aus denen sich fast immer auch irgendeine postgeschichtliche Einsicht gewinnen lässt.

Bayern-Paketkarte via Singapur nach Bangkok

Eines der „großen“ Stücke der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert ziert die Titelseite des Schwanke-Katalogs. Es handelt sich, auch wenn sie eher unterschwellig auf sich aufmerksam macht, um eine wirklich seltene Paketkarte. Sie ist nach Siam adressiert, zu jener Zeit (1907) für einen deutschen Aufgabeort (anders als für einen britischen) noch eine extrem seltene Destination. Dieses bedeutsame postgeschichtliche Dokument ist mit einem senkrechten Paar der bayerischen 3 Mark olivbraun (MiNr. 69x plus rückseitiger Zusatzfrankatur) tarifgerecht freigemacht. Für gerade einmal 500 Euro Ausruf ist das sicher eine Sünde wert…

Schönheit in der Straßenbahn

Kennen Sie das? Sie sehen irgendwo in der Öffentlichkeit, in einer Straßenbahn zum Beispiel, eine Person, die mit ihrer augenfälligen Schönheit unmittelbar Ihren Blick verzaubert. Sie sehen die Person nur für einen flüchtigen Moment, gerade lange genug, um zu erkennen, dass auch Sie vom Gegenüber bemerkt worden sind und interessiert betrachtet werden. Jahre vergehen. Sie sehen diese Person niemals wieder – aber es gibt kaum einen Tag, an dem Sie nicht an sie denken. Nicht nur, aber auch in Straßenbahnen soll dergleichen tatsächlich geschehen.

Nebenbei beobachtet: Ich hatte unlängst die Gelegenheit und Aufgabe, einer akademischen Abschlussarbeit im Fach Management Studies sprachlich auf die Beine zu helfen. Es handelte sich um eine Machbarkeits- und Finanzierbarkeits-Studie für die Neu-Einführung einer projektierten Straßenbahn in einer deutschen Kleinstadt. Ein zumindest auf den zweiten Blick recht spannendes Projekt, das auch die eine oder andere nostalgische Betrachtung angeregt hat. Die gleichzeitige Wiedereinführung einer Straßenbahnpost mit allem Drum und Dran ist freilich in die Kalkulationen nicht mit eingegangen.Auf diesen kurzen, melodramatischen Gedankengang bringt mich ein kleines Spezialangebot dieser Auktion, das Hamburger „Straßenbahnpost“ in den Mittelpunkt stellt. Bei der Straßenbahn aufgegebene und mit einem solchen Gefährt beförderte Postsendungen, sind ausgesprochen gesucht, eben weil sie das Alltägliche hinter sich lassen. Bei postgeschichtlichen Spezialauktionen sind sie stets hochwillkommen und – sofern qualitativ gut erhalten und einigermaßen moderat ausgepreist – sichere Verkaufskandidaten. Zwei oder drei Exemplare in einer Auktion sind schon eher ungewöhnlich. Aus der bemerkenswerten Postgeschichts-Sammlung Meinert stehen nun aber nicht weniger als acht einschlägige thematische Lose zur Verfügung, die gemeinschaftlich mehr als stolze 70 Straßenbahnbelege in den Auktionswettbewerb führen. Die Schätzwerte für individuelle Belege und Partien sind kaum der Rede wert, vielmehr so bemessen, dass für den Nachverkauf nichts übrig bleiben sollte. Dabei ist für im Postverkehr überdurchschnittlich beanspruchte Belege dieser Art die Qualität der meisten offerierten Stücke beeindruckend gut. Schönheiten eben.

Moderiertes Porto zu moderater Schätzung

Unter „moderiertem Porto“ versteht der kundige Postgeschichtler eine Postfreimachung zu ermäßigter Gebühr – möglich beispielsweise bei der Schweiz, mehreren altdeutschen Postverwaltungen und etlichen weiteren Länderposten – unter der Voraussetzung, dass eine vorgegebene Anzahl (etwa 25, 50, 100) gleichartiger Sendungen zur selben Zeit aufgegeben werden. Eine solche „Portomoderation“ (mit oder ohne zusätzliche Stempelkennzeichung) ist fast immer recht selten und wird heute in aller Regel gut honoriert. Ein ganz besonderer, in dieser Form möglicherweise einmaliger Portomoderationsbeleg ist jedoch der hier gezeigte Hannover-Brief mit einem waagerechten Paar der MiNr. 6 (ein moderiertes Porto zu 6 Pfg. für die Strecke von Harburg ins dänische Altona). Es handelt sich um die bisher einzige bekannte Portomoderation auf dieser Strecke, die ja zudem ins Ausland ging. Der Brief war noch nie auf einer Auktion, ist aber keine Neuentdeckung, da er schon 1998 von der Arbeitsgemeinschaft Hannover (R. Heitling) ausführlich beschrieben wurde. Ausruf: 1500 Euro.

„Stettiner Zipfel“

Es klingt nach dem unglücklichen Ende einer Wurstpelle, und rein „phänomenologisch“ ist dies auch nicht so ganz verkehrt. Ein „Powiat“ entspricht in Polen grob einem deutschen Landkreis. Der „Powiat Policki“ ist ein Powiat im Nordwesten der polnischen Woiwodschaft Westpommern, der flächenmäßig der kleinste der Woiwodschaften ist (falls ein solcher Plural statthaft ist). Im Norden grenzt er an das Stettiner Haff, im Westen an den deutschen Landkreis Vorpommern-Greifswald, im Süden in Pargow an die Oder, im Osten an die Stadt Stettin, dann abermals an die Oder in Pölitz und an den polnischen Landschaftsschutzpark Unteres Odertal (Park Krajobrazowy Dolina Dolnej Odry).

Der Powiat Policki befindet sich damit fast vollständig auf dem (heute) polnischen Gebiet des historischen Vorpommern. Im Sprachgebrauch der nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertriebenen deutschen Bevölkerung wird er deshalb auch als „Stettiner Zipfel“ bezeichnet. Post von dort aus der unter vielfältigen Beschränkungen leidenden frühen Nachkriegszeit hat in sehr vielen Fällen den Charakter von Provisorien – mit allen Sorten von Notmaßnahmen (Barfrankaturen, einer einfallsreichen Fülle an Nebenstempeln, handschriftlichen Vermerken) derer Postbedienstete sich bei solchen Gelegenheiten zu bedienen pflegen. Aus diesem „zipfeligen“ Stettiner Sondergebiet bietet die Auktion ein halbes Dutzend attraktiver, zeittypischer Lose mit teils mehreren Belegen. Dass der Gesamtschätzwert für diese Positionen kaum über 1000 Euro liegt, darf man getrost als freundliche Geste verstehen.

Saarität

Die erste Ganzsachenkarte (P 1I) aus dem Saargebiet ist durch den Aufdruck SAARGEBIET auf einer Urkarte 10  Pfg. Germania des Deutschen Reiches entstanden. Üblicherweise diente als Urkarte für diese Maßnahme die Ganzsache P 107. Allenfalls sehr wenige solcher Aufdrucke sind auch auf der älteren, aber sehr ähnlich aussehenden 10-Pfg.-Karte P 74 vorgenommen worden – zweifellos ein Versehen, das möglicherweise sogar einmalig war, denn wie das Fotoattest von Alfred Burger (nicht „Brugger“, wie es in der Losbeschreibung versehentlich heißt) feststellt, handelte es sich zum Prüfzeitpunkt (1982) um „die einzige mir bekannte Urkarte ‚DR Nr. P 74‘)“. Sollte diese Einschätzung auch heute noch Gültigkeit haben, dann hätten wir hier ein Unikat vor uns! Daran gemessen sind 800 Euro Ausruf „kleines Geld“.

Zu guter Letzt…

…verdient ein ausgemachtes Highlight der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert gesonderte Hervorhebung: eine rekommandierte Ortspostkarte von HAMBURG / HAMM-HORN, frankiert mit der Stadtpostmarke MiNr. 24 des Norddeutschen Postbezirks in äußerst seltener Mischfrankatur mit den Brustschild-Marken MiNrn. 1 und 19 – diese Karte wird erstmals auf einer Auktion angeboten. Ihre Seltenheit in der vorliegenden Form muss NDP-, Brustschild- und Hamburg-Sammlern nicht eigens erläutert werden. Dem Rest darf ich immerhin versichern, dass mir bisher keine Handvoll ähnlicher Stücke untergekommen ist.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (3)

Farbige Post, banal und feudal

Einfarbige oder beliebig bunte Briefumschläge sind heute potentiell Alltagsware. Wer bereit ist, ggf. geringe Zusatzkosten zu tragen, der kann sie sich wohl in den absonderlichsten farblichen Kombinationen selbst beschaffen. Mit persönlichen Erfahrungen bunter Briefe bin ich selbst eher spärlich gesegnet. Die einzigen farbigen Beispiele, die mir spontan einfallen, sind Briefe, die man gemeinhin als „blaue Briefe“ bezeichnet. Meine waren eine Enttäuschung und das gleich zweifach: zum einen – und vor allem – weil es sie überhaupt gab, zum anderen aber auch, weil sie ungeachtet ihres Namens gar nicht blau waren, noch nicht einmal bläulich. Keine Spur. Solche Briefe waren innen wie außen ohne Eleganz.

Ich gebe zu: Der „blaue Brief“ stellt ein ganz schwaches Beispiel für „farbige“ Briefe dar, insbesondere dann, wenn man ihn mit seinem hier zu beschreibenden Gegenpart vergleicht. Mit diesem einzigen farbigen (allerdings ebenfalls gar nicht blauen) Brief, dem ich bis heute ästhetisch etwas abgewinnen kann, hat mich unlängst Hans-Joachim Schwanke vertraut gemacht: mit dem „goldenen Brief“ des vietnamesischen Kaisers Khai Dinh (Regentschaft 1916-1925). Während der vergangenen 40 Jahre habe ich mancherlei philatelistisch und postgeschichtlich Eindrucksvolles und Eigentümliches zu sehen bekommen, aber noch nie einen solchen goldenen Kaiserbrief aus Vietnam. Wie die Losbeschreibung ausführt, handelt es sich um einen bronzefarbigen Ornamentikdruck mit goldfarbener Hand-Koloration und Beschriftung mit schwarzer Tinte; die goldene Farbe war exklusiv dem Kaiser vorbehalten. Nach allem, was ich über solche Briefe weiß, sind sie nicht nur extrem selten (vor allem in solcher Qualität), nein, schon das Reden im Plural verbietet sich eigentlich angesichts eines solchen immer individuellenStücks. Was sind dagegen schon „blaue Briefe“ unseligen Angedenkens – selbst, wenn sie blau gewesen wären?

„Sắc phong“ ist eine offizielle Urkunde des Kaisers, ein wichtiges historisches Dokument, das die Kommunikation zwischen Kaiser und Volk bzw. Kaiser und Untergebenen (z.B. Beamte, Volk, Militär) darstellt. Außer in inhaltlichen Gesichtspunkten liegt die Bedeutung des „Sắc phong“ einerseits in der ungewöhnlichen Qualität seiner Gestaltung, die die zeitgenössischen ästhetischen Vorstellungen widerspiegelt, andererseits in der beispielhaft guten Erhaltung.

Der Brief ehrt zum einen die historische Figur Đoàn Thượng, einen General der Ly-Dynastie im 13. Jahrhundert. Zugleich ist er darum bemüht, den Leser daran zu erinnern, dass dem Kaiser sehr daran gelegen war, künftig nicht in Vergessenheit zu geraten und weiterhin angemessen verehrt zu werden.

Das verantwortliche Personal der Provinz, so heißt es, möge doch bitte dafür Sorge tragen.

Wem all dies zu profan ist, der mag sich daran erinnern, dass die grandiosen 100.000 Tontafeln mit Keilschrifttexten aus Babylon ganz überwiegend (das Gilgamesch-Epos nehmen wir dabei gerne aus) Einkaufszettel, Lagerlisten, Heeresaufstellungen und Sammlungen von Gesetzen und Verordnungen umfassen. Gerade das aber hat sie so wertvoll gemacht, weil sie uns auch heute noch die babylonische Lebenswelt erschließen.

Beim ersten Mal


Nicht nur ‚Einmaligkeit‘ ist in der Philatelie ein wertbestimmender Faktor; auch an ‚Erstmaligkeit‘ darf man gehörig Gefallen finden, sofern sie nur hinreichend erwiesen ist. Schon definitionsgemäß stellen Ersttagsbelege oder Abstempelungen vom Ersttag ein beliebtes, weil werthaltiges Sammelgebiet dar. Ersttagsbriefe – während der letzten Jahrzehnte in großen Stückzahlen, oft ohne rechten philatelistischen Verstand, dafür nach vermeintlich massentauglichem Geschmack hergestellt – sind heute allerdings wohlfeile Ware. Je jünger und banaler die verwendeten Marken und die Ausgabe-Anlässe, um so geringer wird man einen aktuellen oder künftigen Wert ansetzen müssen. Sicher gibt es zahlreiche echte und tatsächliche seltene Belege, die alle Ersttagskriterien erfüllen. Dabei wird das reine, postseitig bestimmte Datum der Markenausgabe leider oft als ein philatelistisches anstatt als ein verwaltungstechnisches Kriterium missverstanden.Natürlich gibt es ohne Zweifel unter den reinen Ersttagsbriefen und Abstempelungen vom Ersttag vielerlei Seltenheiten, wie beispielsweise den Ersttagsstempel „LERICI 1 DEC 1863“ ideal auf Briefstück mit Italiens MiNr. 18. Oder man denke an manche semi-moderne Ersttagsbriefe der Schweiz oder an Sonn- und Feiertage als Markenausgabetage, an denen Postämter geschlossen, Ersttagsbriefe daher kaum herstellbar waren.

Die aktuelle Schwanke-Auktion – die 350., eine bemerkenswerte Ziffer, die die Lebensleistungen von Vater und Sohn Schwanke nur vage erahnen lässt – enthält beachtlich viele Stücke, die unter solchen Gesichtspunkten Beachtung verdienen. Ab und zu kommt es dabei sogar vor, dass Erstmaligkeit sich mit Einmaligkeit paart.Oft spannender und aussagekräftiger aber als die klassischen, ausschließlich für den Sammler nach Ausgabedatum hergestellte und frankierte und meistens nicht einmal gelaufene Briefe, sind bestimmte Belege, Briefstücke oder Abstempelungen, die nicht notwendigerweise dem kalendarischen Ersttag verpflichtet sind, sondern bei denen es sich – vom Ausgabedatum weitgehend unabhängig – um andere früheste bekannt gewordene Verwendungen und andere „Firsts“ handelt, die sich nicht streng an kalendarisch verorteten Gebrauchsdaten orientieren.

Beginnen wir mit Finnland (Los Nr. 696). Das früheste bekannte Verwendungsdatum (im Gegensatz zum Ersttagstermin) der finnischen 10 Kop. der Erstausgabe (MiNr. 2x) liegt hier mit klarem zweizeiligen Rahmenstempel „WIBORG 8 MAR 1856“ vor. Es handelt sich nicht bloß um die früheste registrierte Verwendung dieser Marke, sondern um den frühesten Stempelabschlag überhaupt auf einer Briefmarke Finnlands, zudem augenscheinlich in sehr beachtlicher Qualität.

Gebührende Aufmerksamkeit hat auch eine schöne und rare Abstempelung „CORREO. DE LA PAZ.1(5?). DICIEM 67“ auf Briefstück mit einer allseits breitrandigen 5 c. violett (MiNr.5) verrdient; hier haben wir möglicherweise die früheste Verwendung dieser Briefmarke vor uns, dazu in einer Erhaltung, die sich für eine so frühe Ausgabe keineswegs von selbst versteht.

Wandern wir weiter nach St. Pierre et Miquelon und zu Los 1701: Hier handelt es sich um MiNr. 1 mit zentrischem Zweikreisstempel vom 31. Januar 1885 – erneut eine früheste bekannte Abstempelung nicht nur dieser Marke, sondern dieses philatelistischen Gebietes überhaupt. Ein Glücksfall, dass ein solches Stück fast ohne Beeinträchtigung überdauert hat.

Und da war da noch…


Bei einem weiteren Blickfang, der – wenn auch diesmal kein „Erstling“ – bei der Durchquerung des Katalogs am Wegesrand entdeckt und im Gedächntnis geblieben ist, handelt es sich um eine seltene Steindruck-Probe von Meinhold im waagerechten Viererstreifen zu Sachsens MiNr. 6. Dabei ist zwischen der 3. und 4. Marke eine sehr markante Klischeeverschiebung – man möchte schon sagen: ein Klischeesprung – zu besichtigen. Man mag es meiner Unkenntnis anlasten, aber Klischeeverschiebugen in solcher Deutlichkeit und mit solchen Abmessungen habe ich bisher eher mit Preußen als mit Sachsen verbunden; und auch dort sind sie selten.Über eine weitere, spektakulär akkurate Luxusabstempelung – diesmal des großen Einkreisstempels „REDWITZ b. WUNDS DL 19/9“ als bayerische Fremdentwertung auf fabelhaftem Briefstück mit MiNr. 18 des Deutschen Reichs – muss ich gar nicht viele Worte machen. Man braucht das Stück nur zu betrachten, um Gefallen an ihm zu finden. Selbst der kritischere Blick wird nicht viel auszusetzen finden. Und wenn das keiner kauft, überlege ich‘s mir.

Gerd H. Hövelmann