Hans-Joachim Schwanke hat mir die Wahl eines Anknüpfungsobjektes allerdings insofern leicht gemacht, als er ein schönes, postgeschichtlich aussagekräftiges und der Beliebigkeit ganz unverdächtiges Objekt im Februar 2015 in seiner 349. Auktion präsentiert – aufgenommen und bearbeitet schon eine ganze Weile, bevor er um die Pariser Greueltat gewusst haben kann.
Mich drängt es mithin, mit einer Verneigung vor den tapferen französischen Kollegen, auf Los Nr. 100 der Schwanke-Auktion hinzuweisen: auf einen rekommandierten Brief der Französischen Auslandspost in China. Aufgegeben wurde dieses Couvert – mischfrankiert (mit den MiNrn 5 und 8) und fast kalligraphisch beschriftet – am 25. Februar 1902 (PEKIN 25 FEVR 02).
Gerichtet ist der Brief an Monsieur M. Harduin1, den „Rédakteur en chef“ der bedeutenden Pariser Zeitung Le Matin in deren Redaktionsräumen am Boulevard Poissonnére in Paris, nicht sehr weit entfernt vom Ort der gestrigen abscheulichen Bluttat. – Je suis Charlie.
(Geschrieben am 09.01.2015)
Gefallen am Besonderen
Die Dinge des Lebens werden oft verständlicher,
wenn man sie im Zusammenhang sieht und beurteilt.
Das gilt in besonderem Maße auch für Belange der Philatelie und Postgeschichte und könnte als eine Art Motto über unserer kleinen, in lockerer Folge erscheinenden Rubrik stehen. Oft zahlt es sich aus, die „Dinge des Lebens“ möglichst direkt anzugehen. Nicht selten aber erweist sich eine Umleitung letztlich doch als der direktere oder schnellere Weg zum Ziel.
Damit zur Sache: Der Schwarze Einser Bayerns (MiNr. 1) ist nicht nur die älteste, sondern auch eine der beliebtesten Ausgaben der deutschen Briefmarken-Klassik. In vergleichbarer Qualität noch werthaltiger ist aber u.a. Sachsens erste Briefmarke, der sogenannte Sachsendreier. In vollständigen Halbbogen haben wir die Bayern-Eins in den letzten Jahrzehnten mehrmals auf Messen und bei Briefmarken-Versteigerungen zu sehen bekommen. Ähnliches lässt sich vom Sachsendreier nicht behaupten. Aber vor bald zwei Jahrzehnten wurde auch diese erste Freimarke Sachsens wieder einmal im legendären, weil einzig erhalten gebliebenen Komplettbogen2 zum Ausrufpreis von damals 600.000 DM zugeschlagen.
Zwei der seltensten und in Spitzenqualität gesuchtesten deutschen Briefmarkenausgaben waren also zu unseren Lebzeiten in Halb- oder gar im Ganzbogen auf dem Auktionsmarkt zu haben. Weshalb ich das erwähnenswert finde, sollte unmittelbar klar werden, wenn ich Sie nach vergleichbaren Angeboten anderer Topausgaben frage, an die Sie sich erinnern können: die Blaue oder Rote Mauritius? Kein Gedanke. Natürlich. Die „Missionaries“ von Hawaii oder brasilianische Ochsenaugen? Nein, die ebenfalls nicht. Kleinere Kaliber wie Schleswig-Holsteins Erstausgaben oder „bloß“ die zweite und dritte preußische Kopfmarken-Ausgabe, selbst Basler Täubchen? All das niemals.
Müssen wir uns also schon mit Einzelstücken oder Kleineinheiten besserer Marken begnügen, dann findet vielleicht doch eines von nur acht existierenden ungebrauchten Exemplaren der MiNr. 1 IV, 15 c. schwarz a. blau, ungebraucht (1852), der zu Frankreich gehörenden Insel Réunion Interesse, bei der es sich gemäß Beschreibung um die drittseltenste Briefmarken-Erstausgabe der Welt handeln soll? Da ist man froh um jedes einzelne Stück, das es gibt. Vergleichbares gilt sicher für den Farbfehldruck „50 Centimos blau“ (statt 10 c.) einer marokkanischen Lokalpostmarke der Ausgabe 1893-1895. Oder für Mexikos seltene Flugpostmarke MiNr. 740 mit Wz. 9. Spätestens hier drängt sich dem Betrachter allmählich auf, dass und wie sich unstrittig seltene Briefmarken von Raritäten, gar von Weltseltenheiten unterscheiden. Die vorstehenden Vergleiche, das räume ich ein, sind alle ein wenig unfair, aber sie sollen ja nur mein eigentliches Argument illustrieren – dass nämlich auch die Zuweisung von Seltenheitsstufen nicht vom Himmel fällt, sondern dass sie vor allem von vorherrschenden Moden und von individueller wirtschaftlicher Potenz und allgemeinen ökonomischen Verhältnissen, ferner von individuellen Wertentwicklungshoffnungen und Geschmacksentscheidungen, vor allem aber auch von Spekulationslust und finanziellen Sicherheitsvorstellungen abhängt. Hinzu kommt bisweilen ganz Unvorhergesehens wie die faktische „Währungsangleichung“ des Schweizer Franken und des Euro.
Diese und zahlreiche weitere Angebote, die der philatelistische Markt uns dieser Tage unterbreitet, treffen einerseits auf eine für alle Interessenten relativ kommode Marktsituation, andererseits aber auf eine allgemeine Wirtschaftslage, die es vor allem besser situierten Kreisen von Sammlern und Investoren erlaubt, Preise für wirklich seltene Briefmarken in ausgesuchter, ja bestmöglicher Qualität zu zahlen, die vor einem Augenblick noch als unvorstellbar galten. Beispiele dafür kann man praktisch wöchentlich neu erleben, während ehedem mit hohem Kapitaleinsatz aufgeplusterte Standardspitzen – man denke an den Posthornsatz oder Berlins Währungsgeschädigten-Block — sich kaum noch ans Licht des Tages trauen. Dem gegenüber ist das überragende Resultat von 9,5 Millionen US-Dollar für British Guyanas Erstausgabe 1 P. magenta zwar exzeptionell, könnte aber noch um viele weitere, ebenfalls spektakuläre Beispiele unterfüttert werden. Dabei kommen kundige Sammler und clevere Anleger mittlerweile in der so leicht wie selten zu begründenden Einsicht überein, dass eine Investition (mit abgewogener zeitlicher Perspektive) in Philatelie und Postgeschichte eine kluge Entscheidung sein kann.
Wenn man, wie es unser selbstgewähltes Motto empfiehlt, die Dinge des Lebens im Zusammenhang betrachten und beurteilen will, dann lassen sich aus unseren oben ja nur angedeuteten Vergleichen noch viele weitere spannende Diskussionsthemen destillieren. Insbesondere haben wir allen Anlass (und werden darauf recht bald zurückkommen), uns über einige Einflussfakotren neu zu verständigen, deren Wirksamkeit wir oft ohne ausreichende Gründe bloß unterstellen. So werden wir wohl beizeiten auch über unsere Verständnisse von „selten“ und von „Rarität“ noch einmal genauer reden müssen.
Postgeschichtliche Paraphernalia
Unter Paraphernalien werden im weiteren Sinne Gegenstände verstanden, die zu einem speziellen „Kult“ gehören und deren Wert nur innerhalb dieses „Kultes“ ersichtlich ist. Wenn man die Bezeichnung „Kult“ (im Sinne von „Kultus“) wenigstens kurzfristig auch für die Philatelie zulässt, dann mag man als eine solche Paraphernalie auch ein Attest von einem Altmeister der Prüferzunft, von Max Thier, gelten lassen. Es handelt sich um ein Attest für ein allseits voll- bis überrandiges „Savoyer Kreuz“ (Neapel, MiNr. 9) mit übergehendem „Annulato“-Stempel auf Zeitungs-Ausschnitt. Es sind wohl einige noch frühere Atteste für Philatelistisches erhalten geblieben, es dürften aber nicht sehr viele sein. Dieses Los Nr. 238 ist außerdem von zwei weiteren, moderneren Attesten begleitet. Man wird nicht so verblendet sein, das Attest höher als die Marken zu bewerten. Aber einen Preisaufschlag sollte ein so frühes Zeugnis wohl schon wert sein.
1 Wie der Zufall (oder wer auch immer) es will, hat mir noch vor kurzem eine alte Photographie von Monsieur Harduin aus dem Jahr 1908 vorgelegen – mit handschriftlichem Verweis auf seine herausgehobene Redakteursstellung bei Le Matin und wohl eigenhändiger Signatur „H[enri] Harduin“. Daraus mag man den Schluss ziehen, dass die Beschriftung des Briefumschlags seinerzeit fehlerhaft (falsche Vornamens-Initiale „M.“) gewesen ist. Anderenfalls müsste man annehmen, dass es seinerzeit bei Le Matin in kurzer Folge (mindestens) zwei Chefredakteure gleichen Nachnamens gegeben habe; nicht sehr wahrscheinlich, aber auch möglich.
2Die Geschichte dieses einmaligen, wenn auch etwas derangierten Bogens habe ich anderenorts ausführlicher dargestellt: Hövelmann, G.H. (1997). Geschichte einer Legende: Der „Sachsen-Dreier“ im Komplettbogen. Deutsche Briefmarken-Zeitung, 72(4),19-22.
Natürlich hatten auch Kollegen seinerzeit die Feder gespitzt und Zitables hervorgebracht.
Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Ein Briefmarkenauktionator2 erwacht nach einem Unfall aus langer und tiefer Bewusstlosigkeit. Seine philatelistische Kompetenz ist ihm ebenso erhalten geblieben wie sein prinzipieller Marktverstand. Ansonsten aber kann er sich an nichts mehr erinnern. Insbesondere nicht an die Entwicklungen des Briefmarken- und vor allem des Auktionsmarktes während seiner zehn Jahre währenden Ohnmacht.
Das beliebte Kartenspiel „Elfer Raus“ hatte in den frühen 1960ern eine grüne Kunststoffhülle – und die heutige Version kommt, wovon ich mich gerade habe überzeugen dürfen, noch immer in einem kräftig grünen Pappschuber daher. Ob das „nur so eine komische“ Assoziation ist oder mehr, mag entscheiden, wer sich dazu berufen fühlt. Den Elferblock der grünen britischen Oktogone (SG 54-56) zu sehen und mich an die Kartenbox meiner Vorschul-Kindheit zu erinnern, war jedenfalls eins. Da einer der Elfer-Raus-Partner aus Kindertagen ein halbes Jahrhundert später in England lebt und die Briefmarken der neuen Heimat sammelt, ist jedenfalls nicht mehr als ein Zufall. Weniger zufällig ist, dass es mir selbstverständlich schien, ihn kürzlich während eines Telefonats eigens auf die spektakuläre britische Markeneinheit im Schwanke-Angebot anzusprechen. Das Telefonat ging, kaum geschönt, etwa folgendermaßen. Die Leitung war schlecht, es begann schon nicht vielversprechend, und es wurde dann übler. Charakteristische Auszüge:
Manche sachlichen Fehler, die aus unerfindlichen Gründen einmal in den MICHEL-Katalog geraten sind, wirst du nicht mehr los. Vor allem dann, wenn sich für die Aufnahme ein womöglich längst verblichener Prüfer verbürgt hat. Drin ist drin bleibt drin! Egal, wem man schreibt; egal, mit wem man spricht. Nichts spricht derzeit dafür, dass es der von Schwanke als Los 150 angebotenen griechischen Ganzsache P54 anders ergehen könnte. Die Inlands-GA zu 10 Lepta von 1946 kam laut MICHEL aufgrund der Inflation nicht mehr zum Verkauf. Erst zehn Jahre später [mithin 1956] wurde sie als Formblatt postamtlich aufgebraucht.
Spektakuläre Teilgezähnte Abarten verstecken sich bisweilen, und es erfordert dann einigen Aufwand, sie sichtbar und philatelistisch glaubhaft zu machen. So erfordert beispielsweise das Erkennen von Wasserzeichen-Abarten oder Papierdicken-Varianten oder Markenfarbenunterschieden häufig einen beträchtlichen apparativen Einsatz. Die Feststellung und Identifikation von Zähnungsabarten stellt dagegen – sofern es sich nicht lediglich um geringfügig abweichende Zähnungsmaße handelt – im allgemeinen kein Problem dar. Ob eine Marke Zähne hat oder nicht, ob sie teilweise oder vollständig fehlen, ist in der Regel leicht festzustellen. „Der Sammler sollte zur eigenen Sicherheit“, so habe ich an dieser Stelle vor vier Jahren geraten, „darauf achten, Zähnungsabarten zu erwerben, bei denen die fehlende Zähnung zum Bogenrand hin (oder bei Markeneinheiten zwischen den Marken) liegt. In jedem Fall aber sollten die erhalten gebliebenen Markenränder so großzügig bemessen sein, dass der Verdacht, jemand habe sich mittels einer Schere der lästigen Zähnung entledigt, gar nicht erst aufkommt.“