Rares und Kurioses (6)

Sieh nur, wie ich schwanke, Schwanke!

Never make fun on a name!“, lautet eine der eisernen Regeln für jeden Autor, der ernst genommen werden möchte. Jahrzehntelang habe ich mir in dieser Hinsicht nichts zu Schulden kommen lassen. Heute aber erlaube ich mir, ausnahmsweise ein wenig über die Stränge zu schlagen, denn selten war die Verlockung so groß; eine Verlockung aber, für die ich wiederum jede Verantwortung von mir weisen muss.

Schuld ist vielmehr der launige Entwerfer eines kuriosen Briefmarken-Motivs: jener letzten „überlebenden“, obwohl noch nicht einmal amtlich verausgabten Marke der (heute) brasilianischen Provinz ACRE. Das spektakuläre Markenbild gibt der allgemeinen Aufmerksamkeit u.a. eine tanzende, jauchzende und eben bedenklich schwankende Schildkröte als auffälligstes von mehreren Utensilien eines regional bedeutungsträchtigen, ja dokumentarischen Motiv-Inventars preis. Da wir einer biederen Schildkröte keine unmäßige Neigung zum Alkohol unterstellen möchten, können wir nur vermuten, dass sie sich an einigen der lokal reichlich verbreiteten halluzinogenen Pilze gütlich getan haben muss. Wie sonst sollten wir uns dieses luftig dahintänzelnde Reptil plausibel machen? Gewiss, es gibt lokale Erzähltraditionen. Wir aber stellen uns lieber einen verschmitzten, bestens gelaunten Marken-Designer vor und bekunden ihm unsere Anerkennung für „the funniest stamp design ever“.

Auktionator Hans-Joachim Schwanke selbst hat sowohl in seiner Auktionsvorschau als auch in seiner Losbeschreibung bereits alles faktisch Sagens- und Wissenswerte über die charmante „tanzende Schildkröte“ von ACRE mitgeteilt – jedenfalls soweit es die Philatelie, die internationale Postgeschichte und die Entstehungsbedingungen dieses enorm seltenen Zeugnisses lateinamerikanischer Kultur und Markenkunst betrifft. Dazu habe ich nichts Prinzipielles mehr beizusteuern – es sei denn, wir dürften uns angesichts dieses äußerst ungewöhnlichen Markenbildes eine weitere Ausschweifung erlauben.

Lassen Sie mich also fragen: Hat unsere Schildkröte vielleicht auch noch weitere kulturelle Spuren hinterlassen? Ich frage nur, ich behaupte nichts. Aber wie haben wir uns all die Jahre gewundert, wie die Zeichner Kevin Eastman und Peter Laird damals (1984 war’s) nur auf den abstrusen, gar nicht offenkundig lustigen Gedanken verfallen sind, Schildkröten in traditionell asiatische, aber schildkrötgrün eingefärbte Ninja-Kostüme zu zwängen, ihnen Schwerter umzubinden und sie ferner den bipeden (d.i. zweifüßigen), aufrechten Gang zu lehren. Erst jetzt, angesichts der nicht einmal amtlich gewordenen Marke von ACRE, liegt der motivliche Urgrund für die Comic-Serie offen zutage. Oder haben Sie jemals eine Schildkröte beobachtet, die sich ohne zusätzliche Stütze nicht nur auf die Hinterbeine stellt, sondern stabile Tanzschritte ausführt? Irgendwann und irgendwo müssen die Zeichner – vielleicht, vielleicht – eines von kaum einem halben Dutzend Exemplaren der Marke, die die Zeitläufte überdauert haben, zu Gesicht bekommen haben. Daraus haben sie dann, so fantasiere ich es mir freihändig zurecht, erfolgreich und letztlich kinotauglich Comics und Filmdrehbücher entwickelt. Aus so einer starken Voraussetzung erklärt sich für mich zwanglos die Erfindung und Existenz der nervigen Ninja Turtles.

Damit zurück zum Ernst des Lebens und der Philatelie. Die Wirkkraft eines bildlichen Motivs – so meine These – wächst mit der Zahl der Geschichten, Historien und Fantasien, die sich mit diesem Motiv verknüpfen lassen. Auch in dieser Hinsicht kann sich die tanzende Schildkröte von ACRE wirklich sehen lassen: Ich könnte aus dem Stand ein halbes Dutzend Geschichten erfinden und sie mit ihr in Verbindung bringen. Der Kulturwissenschaftler bezeichnet ein so deutungsvariables Objekt als „mythogen“ – als ein Objekt also, das ohne viel Federlesens seine eigenen, interkulturell verständlichen Mythen hervorbringen kann. Dass das auch unserer tanzenden Schildkröte gelungen sein könnte, ist mittelfristig vielleicht sogar eines der besten Argumente für den Erwerb dieser Marke als eines folgenträchtigen kulturhistorischen Dokuments. Abschließend möchte ich eine gewisse Bewunderung für die verrückte Idee des Markenentwerfers nicht verbergen: eine tänzelnde, sich biped auf den Hinterbeinchen fortbewegende Schildkröte wäre, falls authentisch, eine evolutionsbiologische Sensation, die ihren Entdeckern unvergänglichen Ruhm bescheren würde.

Ist der erste Gedanke immer der beste?

Dass angesichts eines Problems oder einer Fragestellung der erste Gedanke stets der beste sei, wird häufig und in überzeugter Tonlage behauptet. Die folgende Schilderung lässt daran allerdings Zweifel aufkommen; sie fällt im übrigen unter die Rubrik “Wahre Geschichten, die einem doch keiner glaubt”. Nicht nur auf Briefmarken und Briefe, ist sie ohne weiteres anwendbar. Die „Moral von der G’schicht“ lesen Sie am Ende dieses Abschnitts.

Das Vanille-Auto

Folgende Lehrgeschichte habe ich vor ein paar Jahren aus den USA mitgebracht. Was sie mit Philatelie zu tun hat, wird sich im weiteren Verlauf zeigen. Ob die Geschichte tatsächlich wahr ist (wie versichert wird) oder nur klug erfunden, ist nicht von Belang.

Der Präsident der Automobil-Firma Pontiac (heute Teil von General Motors) erhielt einen Beschwerdebrief. Dieser hatte (in meiner Übersetzung) den folgenden Wortlaut:

„Ich schreibe Ihnen nun schon zum zweiten Mal. Ich kann es Ihnen aber nicht wirklich verdenken, dass Sie mir bisher nicht geantwortet haben, denn meine Geschichte klang wohl ziemlich verrückt. Es ist jedoch eine Tatsache, dass wir nach alter Familientradition jedes Abendessen mit einem Eiskrem-Dessert beschließen. Die Eissorte wechselt täglich. Wir stimmen jeweils darüber ab, und ich fahre dann zum Eis-Café, um das Eis zu kaufen. Außerdem müssen Sie wissen, dass wir kürzlich einen neuen Pontiac gekauft haben. Seitdem bereiten meine Wege zur Eisdiele jedoch ernste Probleme. Sehen Sie, jedesmal wenn ich Vanille-Eis kaufe und ich mich auf den Rückweg machen will, springt mein Auto nicht mehr an. Kaufe ich eine beliebige andere Eissorte, macht das Auto keine Probleme. Sie sollten verstehen, dass mir diese Anfrage ganz ernst ist, so unsinnig sie auch klingen mag. Also – was ist los mit meinem Pontiac, der nicht startet, wenn ich Vanille-Eis kaufe, der aber sofort anspringt, wenn ich eine andere Eissorte oder irgendetwas anderes kaufe?

Der Pontiac-Präsident war angesichts dieses Briefes verständlicherweise ein wenig irritiert, schickte aber dennoch einen lokalen Techniker des Unternehmens vorbei. Dieser war angesichts der bisherigen Geschichte erstaunt, auf einen geschäftlich erfolgreichen, stockseriösen und offenbar gebildeten Klienten in einer guten Wohngegend zu treffen. Er hatte sich mit ihm für die Zeit gleich nach dem Abendessen bei der Eisdiele verabredet. Die Familie hatte für Vanille-Eis gestimmt und, klar, als sie zum Auto zurückkamen, versagte dieses den Dienst. Der Pontiac-Techniker fand sich auch in den folgenden drei Tagen wieder ein. Am ersten Abend kaufte er Schokoladen-Eis – kein Problem mit dem Anlasser. Am zweiten Abend wählte er Erdbeer-Eis – der Wagen sprang sofort an. Vanille-Eis gab es am dritten Abend – das Auto rührte sich nicht.

Natürlich glaubte der Techniker, ein logisch denkender Mann, keinen Moment daran, dass das Auto allergisch auf Vanille-Eis reagieren könnte. Er besuchte die Familie daher auch in den folgenden Tagen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Er erhob (und variierte) umfangreiches Datenmaterial: Tageszeit, Art des getankten Benzins, Fahrzeiten hin und zurück usw. Mit der Zeit fiel der Groschen, als er bemerkte, dass er weniger Zeit für den Kauf von Vanille-Eis als für den Erwerb der anderen Eissorten brauchte. Nicht das Eis und nicht das Auto waren das Problem, sondern allein die Anordnung der Eissorten in der Eisdiele. Vanille, die beliebteste Geschmacksrichtung, wurde wegen der großen Nachfrage direkt am Eingang des Ladens ausgegeben, alle anderen Sorten weiter hinten. Dort das richtige Eis auszuwählen, zu zahlen und den Laden wieder zu verlassen, dauerte beträchtlich länger. Damit aber verschob sich die Logik der technischen Frage: von der Frage nämlich nach einem Zusammenhang zwischen Eissorte und Startverhalten zu der Frage nach der für den Eiskauf insgesamt erforderlichen Zeit und der zwischenzeitlichen Abkühlung des Pontiac-Motors. Dampfblasenbildung [„Vapor Lock“] erwies sich schließlich als die richtige, ganz „eisfreie“ Beschreibung des tatsächlichen technischen Problems.

Als die vorhin versprochene „Moral von der G’schicht“, die schon für das Alltagsleben gilt, aber gerade dem Sammler besonders ans Herz gelegt sei, dürfen wir festhalten:

  • Erster Merksatz: Nicht immer ist der erste Gedanke der richtige.
  • Zweiter Merksatz: Auch, was offensichtlich scheint, ist nicht immer wahr.
  • Dritter Merksatz: Ganz gleich, wie verrückt die Beantwortung einer Frage oder die Lösung eines Problems klingen mögen, sie könnten dennoch zutreffen.
  • Vierter Merksatz: Eine Tatsache, wie unplausibel sie auch immer sein mag, ist eine Tatsache.

Mit dieser Vierfach-Moral bin ich (nicht nur) auf dem Briefmarkenmarkt stets gut gefahren. Allerdings bin ich noch die Erklärung schuldig, was genau mich dazu veranlasst hat, die vorstehende Geschichte zu erzählen und gar eine Serie von Merksätzen aus ihr abzuleiten. Es war das Los Nr. 616 der aktuellen Schwanke-Auktion: Diese Ersttagsstempel könnten nie und nimmer echt sein, war mein erster Gedanke – noch bevor ich die Losbeschreibung so recht wahrgenommern hatte – angesichts der Abbildung der beiden wertentscheidenden Marken aus Österreichs Vogelsatz des Jahres 1953. Das einzig Falsche war hier jedoch meine spontane Vermutung: Ein aktueller Fotobefund des österreichischen Prüfers Soecknick bestätigt dagegen: „Echt und einwandfrei“.

Toller Vogel

Die berühmte Basler Taube ist nicht nur – aber das ist eine Geschmacksfrage – eine der schönsten und beliebtesten Briefmarken der Philatelie-Geschichte. Sie ist außerdem auch die erste mehrfarbige Briefmarke der Welt, ferner eine der frühesten mit partiellem Prägedruck. Zudem – und deshalb vor allem verweise ich auf sie – ist sie soeben 170 Jahre alt geworden; ihr amtlicher Ersttag war der 1. Juli 1845. Eines der Qualitätsmerkmale, die man für eine Basler Taube in Ansatz bringen kann, ist das vollständige Vorhandensein intakter, nicht ergänzter weißer Markenränder. Dieses Kriterium ist bei dem hier gezeigten Exemplar aus der aktuellen Schwanke-Auktion durchaus erfüllt, auch wenn der untere Rand vielleicht ein wenig knapper ausgefallen ist als wünschenswert. Ich hatte unlängst die willkommene Gelegenheit, ein wenig zu den Vorbereitungen einer Jubiläumsausstellung zur Basler Taube in der Schweiz beizutragen, und ich hatte in diesem Zusammenhang einige der besten und außergewöhnlichsten „Täubchen“ zu sichten. Ich habe daher eine recht gute Vorstellung davon, wie wenige dieser seltenen Marken sich heute noch in guter bis wenigstens akzeptabler Erhaltung präsentieren. Das hier gezeigte Stück zählt – soweit denn ein Photo der Markenvorderseite überhaupt eine Einschätzung zulässt – zweifellos zu den schöneren der ohnehin nur wenigen erhaltenen ungebrauchten Exemplare. Eine Basler Taube in solcher oder vergleichbarer Erhaltung ist immer eine Augenweide.

Luftpostmarken aus dem fernen Osten

Falls und insofern Seltenheit ein relevantes Kriterium ist, hat die Luftpostausgabe Wladiwostok-Spassk aus der russischen Republik des Fernen Ostens als komplette Serie mit insgesamt 19 Werten (einschließlich vier geschnittener Marken und der drei bekannten Werte mit kopfstehenden Aufdrucken), allesamt postfrisch erhalten, den Liebhabern des Seltenen und Ausgefallenen wahrhaftig etwas zu bieten. Beachtung verdient nicht nur, dass die MICHEL-Katalogisierung keine Postfrisch-Notierungen für diese Marken kennt, sondern auch, dass Aufdruckkopfsteher der Katalogredaktion bisher noch nicht einmal zur Kenntnis gekommen sind. Bei Auflagen je Marke, die lt. MICHEL „zwischen 25 und 27 Stück“ liegen, ist eine Preisschätzung ab 15.000 Euro für diesen exklusiven Bestand sicher nicht übertrieben.

Auf den Kopf gestellt: Marken mit kopfstehenden Bildteilen

Briefmarken mit Bildteilen, die relativ zu allen anderen Elementen auf dem Kopf stehen, gehören zum Spektakulärsten, was die Philatelie überhaupt zu bieten hat. Es gibt sie zwar aus fast allen Sammelgebieten, was die Anlage variantenreicher Kollektionen prinzipiell möglich macht; doch zählen die individuellen Stücke oft zum Seltensten, was die betreffenden Sammelgebiete überhaupt zu bieten haben: Man denke an die „Inverted Jenny“ und die an der Decke fahrenden Eisenbahnen und Schiffe (alle USA), die kopfstehenden Wiener Parlamentsgebäude (Österreich, siehe Los-Nrn. 119 und 578), Ungarns „kopfstehende Madonna“ oder Guatemalas kopfstehender Quetzal (siehe die Lose Nrn. 128-130) und viele weitere Beispiele. Bildmittelstücke, Rahmen, Auf- oder Unterdrucke, alles kann im Briefmarkendruck auf dem Kopf stehen, solange es nur in einem anderen Druckgang als die übrigen Elemente des Markenbildes hergestellt worden ist. Nicht weniger als 23 Positionen (Lose 116-137, 578) solcher Art kann die Schwanke-Auktion diesmal vorweisen.

Lukrative Drei- und Viertausender

Nein, nein, nicht von alpinen Klettereien ist hier die Rede (Gott bewahre!). Vielmehr möchte ich Ihnen abschließend noch ein paar interessante Einzelstücke ans Herz legen, die allesamt mit einer Schätzwertvorgabe von 3000 bzw. 4000 Euro in die Schwanke-Auktion gehen. Der bloße Schätzwert ist freilich kein philatelistisches Kriterium, sehr wohl aber ein wissenswertes und praktisch handhabbares. Hinweisen möchte ich aus diesem Preisbereich beispielsweise auf eine wundervolle, literaturbekannte Mehrfachfrankatur der preußischblauen hamburgischen 3 Sch. (MiNr. 15b) auf Drucksache nach New York (Los 6) und auf eines der wenigen erhalten gebliebenen Stücke der sog. Helgoländer „Pilger-Karte“.

Spektakulär ist auch das Spezialangebot einiger Block-Abarten deutscher Sammelgebiete –von einem ungezähnten postfrischen Block 6U des Deutschen Reiches (Los 27) bis hin zu einem ungezähnten Widerstandskämpfer-Block der Bundespost (Los 35) und Saar-Block 2FU postfrisch ohne Markendruck (Los 36). Verlockend scheinen auch eine sehr schöne MiNr. 13 Oldenburgs vom Oberrand auf Luxusbrief mit kontrastreichem blauen Stempel (Los 12), ein knappes Dutzend Ganzsachen-Raritäten der SBZ-Bezirkshandstempelaufdrucke aus dem Bestand Helmuth Messmers (Lose 40-50), Luxusstücke der dänischen MiNr. 2 I und der finnischen MiNr. 1 II je auf Briefen (Lose 63-64), ein postfrisches Randstück von Islands MiNr. 15 B (Los 71), eine ungebrauchte Zähnungsrarität MiNr. 100 B von Liechtenstein (Los 498), ein gestempelter Viererblock der 6 Crazie dunkelblau (MiNr. 15) der Toscana (Los 74), Norwegens erste Briefmarke ungebraucht sowie zwei qualitätsvolle Norwegen-Frankaturen (Lose 77-79), ein guter „rosa Merkur“ Österreichs (Los 80), eine ideale gestempelte schwedische Nr. 1 (Los 83), der Schweizer Farbfehldruck Nr. 203 z (Rot statt Violett; Los 89), die MiNrn. 9, 10 und 16 von Hawaii in beachtlichen ungebrauchten Einheiten (Lose 94-96) sowie kuriose, kaum jemals angebotene Marken, Briefstücke und ein Brief der entlegenen Clipperton Islands (Lose 113-115).

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (5) – oder Die Kunst des Schauens

Es gibt wenigstens drei verschiedene Methoden, alle gleichermaßen bewährt, mittels deren der Interessent sich gründlich über die Schwerpunkte und Vorzüge, die Spezialisierungen und die Eigentümlichkeiten eines Auktionsangebots informieren kann. Zwei von ihnen dürfen als traditionell gelten, die dritte steht dank der technischen Entwicklung erst seit wenigen Jahren zur Verfügung. Sie alle haben ihre gesonderten Vorzüge, weshalb hier keiner der drei Methoden zu Lasten der jeweils anderen der Vorzug gegeben werden soll; sie alle lassen sich zudem sinnvoll und zeitökonomisch kombinieren.

Klassisch sind erstens die formalen Besichtigungsgänge (mit oder ohne vorherige Kenntnisnahme des Angebotenen) in den Hinterzimmern der Auktionsveranstalter selbst. Wann immer es sich realisieren lässt und es mutmaßlich den zeitlichen und organisatorischen Aufwand (Anreise, evtl. Hotelaufenthalt) lohnt, sind solche Besichtigungsgänge zweifellos eine gute Wahl, denn nur sie führen den Besichtiger und das Anzuschauende tatsächlich zueinander. Da die potentielle Auktionskundschaft heutzutage aber nur noch in Ausnahmefällen lokal dominiert ist, sondern sich vielmehr als wenigstens national, fast immer aber als international erweist, ist die direkte persönliche Auktionsbesichtigung längst nicht mehr der Regelfall. Vielmehr werden Gebots- und Kaufentscheidungen vorzüglich anhand der Eindrücke gefällt, die die Offerte im gebundenen, heute bisweilen luxuriös ausgestatteten Auktionskatalog generiert. Als dritte Option zur Kenntnisnahme des Auktionsangebots bietet sich (erst) seit einigen Jahren die Selbstunterrichtung anhand der Darstellung auf der Webseite des Auktionshauses an, die oft um elaborierte Download- und Vergrößerungs-Optionen ergänzt sind – vor allem Letztere sind ein vorbildlich einsetzbares ‚feature‘ auf der Homepage der Schwanke-Auktion.

Für welche dieser unterschiedlichen Weisen der Kenntnisnahme und Selbstvergewisserung (am besten für mehr als nur eine) man sich entschließen mag, ein Eindruck scheint leidlich konstant: Ganz gleich, welche Betrachtungsweise – Besichtigung, Katalog- oder Online-Studium – man wählt, man nimmt oftmals erstaunlich unterschiedliche Dinge wahr. Obwohl alle drei Arten der Betrachtung in der Regel mit großem Interesse, nachhaltiger Aufmerksamkeit und philatelistischer Sorgfalt betrieben werden, sieht der Interessent doch oft sehr verschiedene Dinge. Auch wenn sämtliche relevanten Merkmale in allen Darstellungsvarianten jeweils objektiv sichtbar sind, werden sie doch oft nur zu Teilen und manchmal gar nicht wahrgenommen. So funktioniert eben unsere gerichtete, d.h. von Interessen abhängige Wahrnehmung. Es scheint mir folglich ratsam, sofern der eigene Zeithaushalt es erlaubt, alle drei Betrachtungsweisen zum Zuge kommen zu lassen, und zwar nicht parallel, sondern nacheinander. Das mag zwar langwierig und ermüdend sein, und es hilft auch nicht immer sehr viel weiter, aber Sie werden sich häufig wundern, was Sie bei der einen „Ansicht“ Zug um Zug entdecken, das Ihnen bei den anderen Betrachtungsweisen vollständig entgangen ist.

Topstück einer neu entdeckten sächsischen Korrespondenz nach Australien, dazu eine spektakuläre 6-Farben-Frankatur nach Neuengland (wie sie z.B. in Preußen gar nicht herstellbar war; mehr als 5 Farben gingen dort nicht).

Zahlreiche ‚kleine‘ Spezialofferten

Nicht entgangen sind mir beim Studium des Angebots der 352. Schwanke-Auktion unter anderem – und vor allem – die ungewöhnlich zahlreichen, kleinen, aber gehaltvollen Spezialofferten (oft nur ein Dutzend einschlägiger Lose oder wenig mehr) aus vielen Gebieten der deutschen und internationalen Philatelie und Postgeschichte, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren wollen. Nur wenige einschlägige Beispiele können allerdings hier vorgestellt oder auch nur erwähnt werden. Entsprechend empfiehlt sich das genaue Studium des abwechslungsreichen Programms – ganz egal, auf welchem der vorstehend skizzierten Wege.

Neben den bereits abgebildeten raren Sachsen-Briefen im niederen bzw. hohen vierstelligen Euro-Bereich gefallen – sehr viel günstiger zu haben – beispielsweise ein halbes Dutzend Lose mit ausnehmend hübschen, je mit Zusatzfrankaturen verwendeten Ganzsachen Islands (Ausrufe: 120 bis 700 Euro). Klassische europäische und außereuropäische Ganzsachen, jeweils mit guten Zusatzfrankaturen und seltenen Verwendungen oder Abstempelungen, finden sich auch in anderen Bereichen der aktuellen Schwanke-Offerte in stattlicher Zahl. Wenn wir von Island kommend im Norden bleiben, nämlich bei Norwegen, fällt zunächst ein handverlesenes Angebot mit rund 20 spezialisierten Losen der (meist) Oskar-Ausgabe des Landes mit schönen Streifeneinheiten und Mischfrankaturen auf, dazu Wappen-Ausgaben in Buntfrankaturen; die Taxen liegen hier zwischen 90 und 1500 Euro.

Nie zuvor zu Gesicht gekommen sind mir Ländermischfrankaturen zwischen klassischen Freimarken Österreichs (Kreuzer-Ausgabe) jeweils mit britischer MiNr. 22 auf zwei Briefstücken, die noch erkennbar einstmals nach Thailand bzw. nach China adressiert waren. Zu einem Gesamtgebot ab 1800 Euro steht das Pärchen zur Verfügung.

Eher aus der geographischen Nähe, nämlich aus Stuttgart, stammen dagegen zehn Positionen zur Stuttgarter Stadtpost (Lose Nr. 1810-1819; Startpreise je zwischen 100 und 1000 Euro). Wer das Handbuch zur Stuttgarter Stadtpost von Horst Jaedicke kennt oder einmal eine einschlägige (Ausstellungs-)Sammlung gesehen hat, der kann nicht nur die postgeschichtliche Begeisterung für ein solches Gebiet nachvollziehen, sondern er weiß auch, wie attraktiv – und teils auch selten – Belege dieser lokalen Stadtpostbeförderung sein können. Das Schwanke-Angebot bestätigt genau dies.

 

Auktionseröffnend bietet übrigens Albanien mit einer Auswahl guter Einzelwerte und Besonderheiten der Erstausgaben einige interessante Aufmacher. Mehr als 60, teils spezialisierte Positionen weist sodann das Angebot für Altitalien und das italienische Königreich auf; darunter sind sowohl gute und attraktive Frankaturen und gesuchte Einzelwerte als auch interessante Abarten und andere Spezialitäten wie zum Beispiel eine ungebrauchte MiNr. 10II des Kirchenstaats (1500 Euro), der ungebrauchte Modena-Fehldruck Nr. 2IF (400 Euro) – der so unzweideutig ist, dass er mich selbst noch in Versuchung führt –, ferner Parmas MiNr. 2 im nicht ganz astreinen gestempelten Viererblock (Ausruf 1000 Euro bei 45,000 Michel) und die Zeitungsmarke Nr. 1 auf Zeitung (2000 Euro). Hinzu kommen gute Briefe Altitaliens – beispielsweise ein unfrankierter Brief vom offiziellen Ersttag der Lombardei & Venetiens vom 1. Juli 1850 (250 Euro) sowie seltene Streifen- und Blockeinheiten aus den 1860er und 1870er Jahren. Die Schätzpreise beginnen „italienweit“ schon bei 70 Euro und scheinen teils „am unteren Ende kalkuliert“.
Wunderschön (und ab gerade einmal 300 Euro zu haben) ist auch die folgende Dreifarbenfrankatur der Österreichischen Post in der Levante nach Venedig – für die durchschnittliche Qualität dieser Italien-Offerte durchaus charakteristisch.

Für besondere Highlights aus deutschen Landen sorgt beispielsweise die Auflösung der sogenannten Sammlung „Fürstenhagen“ der Sowjetischen Besatzungszone. Das Angebot umfasst ca. 180 Positionen, mit jeder Menge dauergesuchter Spezialitäten, die – gerade bei diesem Gebiet besonders wichtig! – mit aktuellen Prüfungen, Attesten und Befunden daherkommen. Die aufaddierten Schätzpreise dieser 180 Lose bringen es auf mehr als 50,000 Euro, und sie sind, wenigstens mehrheitlich, so taxiert, dass noch „Luft“ bleibt, um ein wenig draufzulegen. Für den Spezialisten sind hier potentiell wenige Wünsche offen, soweit überhaupt eine noch so spezialisierungsversessene Sammlung der diffizilen Vielfalt der Philatelie der Sowjetischen Besatzungszone gerecht werden kann. Auf rund zwei Dutzend Lose aus der Auflösung einer guten Forschungssammlung Helgoland (vorsichtige Gesamttaxe: über 6600 Euro) muss außerdem unbedingt hingewiesen werden.

Für den eingefleischten Postgeschichtler mit einer guten Spürnase mag ferner ein Preußen-Brief, mit der Kopfmarke MiNr. 9 und zwei Exemplaren der Wappenmarke MiNr. 14 wertstufengleich und portokorrekt freigemacht, von einigem Interesse sein. Denn spätestens beim zweiten Blick erschließt sich, dass alle drei Marken zuvor schon einmal verwendet und auch vorschriftsgemäß abgestempelt worden waren – damit wird dieser Brief zu einem Dokument und Beweisstück für einen nicht nur versuchten, sondern vollendeten und insofern gelungenen Postbetrug.

Natürlich enthält das Angebot noch etlich weitere spannende Kollektionen, Spezialobjekte und Einzelmarken und Belege, die eine gesonderte Vorstellung erlauben und rechtfertigen würden. Beispielsweise bietet sich da eine bemerkenswerte, noch junge russische Abart aus dem Jahr 1962 an: Eine Sondermarke zum 100. Geburtstag des aserbaidschanischen Schriftstellers A. Sabir, die ein Porträt des Literaten zeigt. Alles prima, nur – die Inschrift war fehlerhaft (AZERBAITSCHAYN statt AZERBAITSCHAN, MiNr. 2625 I, russischer „Standard“-Katalog Nr. A2661). Zwar wurde diese Marke sofort vom Verkauf zurückgezogen und durch eine Ausgabe mit korrigierter Inschrift ersetzt. Doch 250 Exemplare entgingen der Vernichtung. In der Auktion zu haben ist ein postfrischer Eckrandviererblock, der – wenn nicht einmalig, so doch – jedenfalls höchst selten ist (Ausruf: 5000 Euro). Wohl Seltener noch, wenn auch letzthin ein wenig aus dem Fokus gerückt, dürfte die hier gezeigte MiNr. 3IIx von Mauritius sein – die erste Mauritius-Marke, die historisch auf die beiden POST-OFFICE-Werte folgte, präsentiert sich in akzeptabler Erhaltung mit Nummernstempel-Entwertung („3“) auf Briefstück mit beigesetztem Rahmenstempel SOUILLAC vom 9. März 1854 auf einem größeren Briefstück (3000 Euro). Neusüdwales schließlich steuert ca. 15 sehr beachtliche klassische Einzellose, darunter ein paar erstaunliche Markeneinheiten (zwischen nur 90 und 750 Euro), zum Angebot bei, Peru ein zentrisch gestempeltes Luxusstück seiner ersten Briefmarke (1800 Euro).
Für alles weitere sind Sie gerne aufgefordert, einen oder mehrere der eingangs skizzierten Wege zu beschreiten und sich mit dem Angebot der aktuellen Schwanke-Auktion hinreichend vertraut zu machen.

Gerd H. Hövelmann

Rares und Kurioses (4)

– Unser Autor Gerd H. Hövelmann kommentiert –

Die schönsten Auktionskataloge…

…waren schon immer diejenigen, in denen den kundigen Betrachter nicht unbedingt bei jedem Umblättern sogleich eine Katalograrität anspringt (obgleich auch das nicht ausgeschlossen werden soll), sondern jene, bei denen auf fast jedes Blättern ein Innehalten folgt, ein nicht unbedingt erwarteter Moment der Aufmerksamkeit, der vom sofortigen weiteren Umschlag der Seiten abhält. Verantwortlich dafür ist beispielsweise ein Stück, das den Blick fesselt, weil es hinreißend schön oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich ist – sogar ohne dass man im ersten Moment genauer zu sagen wüsste, warum, und das, eben deshalb, den geschwinden Katalogsichtungsblick stocken lässt und zur genaueren Betrachtung und möglicherweise dann auch zu praktischem Handeln animiert.

Eine solche Art der unaufdringlichen, aber wirksamen Präsentation haben wir mit dem aktuellen Hauptkatalog zur 351. Schwanke-Auktion vor uns, die der Auflösung der Sammlung „Deutsche Postgeschichte“ des Hamburger Sammlers Jürgen Meinert gewidmet ist. Ich erlaube mir, einige Beispiele herauszustellen, die das vorstehend Gesagte illustrieren mögen.

Doch, doch, ein blauer Brief!

Zunächst einmal darf der Autor sich – kurzzeitig wenigstens – der Illusion hingeben, dass der Auktionator die folgenden beiden Briefe speziell für ihn beschafft und angeboten habe: Denn in der vorigen Folge von „Rares und Kurioses“ hatte der Verfasser vor einigen Wochen wenn nicht beklagt, so doch bedauert, dass die „blauen Briefe“ seiner Jugend alles andere, aber eben nicht blau gewesen seien. Obwohl dem mutmaßlich keine Absicht zugrundelag (aber wer weiß das schon?), wird es diesseits als eine besondere Freundlichkeit empfunden, dass der Auktionator mit Los-Nummer 146 für wirklich geringes Geld zwei Exemplare der berühmten tiefdunkelblauen Umschläge der Berliner Cabinetts-Expedition aufgeboten hat. Und was der Auktionator garantiert nicht wusste: Der Verfasser besaß vor rund 35 Jahren selbst eine kleine Spezialsammlung dieser auffälligen preußischen Postkuverts, aus denen sich fast immer auch irgendeine postgeschichtliche Einsicht gewinnen lässt.

Bayern-Paketkarte via Singapur nach Bangkok

Eines der „großen“ Stücke der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert ziert die Titelseite des Schwanke-Katalogs. Es handelt sich, auch wenn sie eher unterschwellig auf sich aufmerksam macht, um eine wirklich seltene Paketkarte. Sie ist nach Siam adressiert, zu jener Zeit (1907) für einen deutschen Aufgabeort (anders als für einen britischen) noch eine extrem seltene Destination. Dieses bedeutsame postgeschichtliche Dokument ist mit einem senkrechten Paar der bayerischen 3 Mark olivbraun (MiNr. 69x plus rückseitiger Zusatzfrankatur) tarifgerecht freigemacht. Für gerade einmal 500 Euro Ausruf ist das sicher eine Sünde wert…

Schönheit in der Straßenbahn

Kennen Sie das? Sie sehen irgendwo in der Öffentlichkeit, in einer Straßenbahn zum Beispiel, eine Person, die mit ihrer augenfälligen Schönheit unmittelbar Ihren Blick verzaubert. Sie sehen die Person nur für einen flüchtigen Moment, gerade lange genug, um zu erkennen, dass auch Sie vom Gegenüber bemerkt worden sind und interessiert betrachtet werden. Jahre vergehen. Sie sehen diese Person niemals wieder – aber es gibt kaum einen Tag, an dem Sie nicht an sie denken. Nicht nur, aber auch in Straßenbahnen soll dergleichen tatsächlich geschehen.

Nebenbei beobachtet: Ich hatte unlängst die Gelegenheit und Aufgabe, einer akademischen Abschlussarbeit im Fach Management Studies sprachlich auf die Beine zu helfen. Es handelte sich um eine Machbarkeits- und Finanzierbarkeits-Studie für die Neu-Einführung einer projektierten Straßenbahn in einer deutschen Kleinstadt. Ein zumindest auf den zweiten Blick recht spannendes Projekt, das auch die eine oder andere nostalgische Betrachtung angeregt hat. Die gleichzeitige Wiedereinführung einer Straßenbahnpost mit allem Drum und Dran ist freilich in die Kalkulationen nicht mit eingegangen.Auf diesen kurzen, melodramatischen Gedankengang bringt mich ein kleines Spezialangebot dieser Auktion, das Hamburger „Straßenbahnpost“ in den Mittelpunkt stellt. Bei der Straßenbahn aufgegebene und mit einem solchen Gefährt beförderte Postsendungen, sind ausgesprochen gesucht, eben weil sie das Alltägliche hinter sich lassen. Bei postgeschichtlichen Spezialauktionen sind sie stets hochwillkommen und – sofern qualitativ gut erhalten und einigermaßen moderat ausgepreist – sichere Verkaufskandidaten. Zwei oder drei Exemplare in einer Auktion sind schon eher ungewöhnlich. Aus der bemerkenswerten Postgeschichts-Sammlung Meinert stehen nun aber nicht weniger als acht einschlägige thematische Lose zur Verfügung, die gemeinschaftlich mehr als stolze 70 Straßenbahnbelege in den Auktionswettbewerb führen. Die Schätzwerte für individuelle Belege und Partien sind kaum der Rede wert, vielmehr so bemessen, dass für den Nachverkauf nichts übrig bleiben sollte. Dabei ist für im Postverkehr überdurchschnittlich beanspruchte Belege dieser Art die Qualität der meisten offerierten Stücke beeindruckend gut. Schönheiten eben.

Moderiertes Porto zu moderater Schätzung

Unter „moderiertem Porto“ versteht der kundige Postgeschichtler eine Postfreimachung zu ermäßigter Gebühr – möglich beispielsweise bei der Schweiz, mehreren altdeutschen Postverwaltungen und etlichen weiteren Länderposten – unter der Voraussetzung, dass eine vorgegebene Anzahl (etwa 25, 50, 100) gleichartiger Sendungen zur selben Zeit aufgegeben werden. Eine solche „Portomoderation“ (mit oder ohne zusätzliche Stempelkennzeichung) ist fast immer recht selten und wird heute in aller Regel gut honoriert. Ein ganz besonderer, in dieser Form möglicherweise einmaliger Portomoderationsbeleg ist jedoch der hier gezeigte Hannover-Brief mit einem waagerechten Paar der MiNr. 6 (ein moderiertes Porto zu 6 Pfg. für die Strecke von Harburg ins dänische Altona). Es handelt sich um die bisher einzige bekannte Portomoderation auf dieser Strecke, die ja zudem ins Ausland ging. Der Brief war noch nie auf einer Auktion, ist aber keine Neuentdeckung, da er schon 1998 von der Arbeitsgemeinschaft Hannover (R. Heitling) ausführlich beschrieben wurde. Ausruf: 1500 Euro.

„Stettiner Zipfel“

Es klingt nach dem unglücklichen Ende einer Wurstpelle, und rein „phänomenologisch“ ist dies auch nicht so ganz verkehrt. Ein „Powiat“ entspricht in Polen grob einem deutschen Landkreis. Der „Powiat Policki“ ist ein Powiat im Nordwesten der polnischen Woiwodschaft Westpommern, der flächenmäßig der kleinste der Woiwodschaften ist (falls ein solcher Plural statthaft ist). Im Norden grenzt er an das Stettiner Haff, im Westen an den deutschen Landkreis Vorpommern-Greifswald, im Süden in Pargow an die Oder, im Osten an die Stadt Stettin, dann abermals an die Oder in Pölitz und an den polnischen Landschaftsschutzpark Unteres Odertal (Park Krajobrazowy Dolina Dolnej Odry).

Der Powiat Policki befindet sich damit fast vollständig auf dem (heute) polnischen Gebiet des historischen Vorpommern. Im Sprachgebrauch der nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertriebenen deutschen Bevölkerung wird er deshalb auch als „Stettiner Zipfel“ bezeichnet. Post von dort aus der unter vielfältigen Beschränkungen leidenden frühen Nachkriegszeit hat in sehr vielen Fällen den Charakter von Provisorien – mit allen Sorten von Notmaßnahmen (Barfrankaturen, einer einfallsreichen Fülle an Nebenstempeln, handschriftlichen Vermerken) derer Postbedienstete sich bei solchen Gelegenheiten zu bedienen pflegen. Aus diesem „zipfeligen“ Stettiner Sondergebiet bietet die Auktion ein halbes Dutzend attraktiver, zeittypischer Lose mit teils mehreren Belegen. Dass der Gesamtschätzwert für diese Positionen kaum über 1000 Euro liegt, darf man getrost als freundliche Geste verstehen.

Saarität

Die erste Ganzsachenkarte (P 1I) aus dem Saargebiet ist durch den Aufdruck SAARGEBIET auf einer Urkarte 10  Pfg. Germania des Deutschen Reiches entstanden. Üblicherweise diente als Urkarte für diese Maßnahme die Ganzsache P 107. Allenfalls sehr wenige solcher Aufdrucke sind auch auf der älteren, aber sehr ähnlich aussehenden 10-Pfg.-Karte P 74 vorgenommen worden – zweifellos ein Versehen, das möglicherweise sogar einmalig war, denn wie das Fotoattest von Alfred Burger (nicht „Brugger“, wie es in der Losbeschreibung versehentlich heißt) feststellt, handelte es sich zum Prüfzeitpunkt (1982) um „die einzige mir bekannte Urkarte ‚DR Nr. P 74‘)“. Sollte diese Einschätzung auch heute noch Gültigkeit haben, dann hätten wir hier ein Unikat vor uns! Daran gemessen sind 800 Euro Ausruf „kleines Geld“.

Zu guter Letzt…

…verdient ein ausgemachtes Highlight der Postgeschichtssammlung von Herrn Meinert gesonderte Hervorhebung: eine rekommandierte Ortspostkarte von HAMBURG / HAMM-HORN, frankiert mit der Stadtpostmarke MiNr. 24 des Norddeutschen Postbezirks in äußerst seltener Mischfrankatur mit den Brustschild-Marken MiNrn. 1 und 19 – diese Karte wird erstmals auf einer Auktion angeboten. Ihre Seltenheit in der vorliegenden Form muss NDP-, Brustschild- und Hamburg-Sammlern nicht eigens erläutert werden. Dem Rest darf ich immerhin versichern, dass mir bisher keine Handvoll ähnlicher Stücke untergekommen ist.

Gerd H. Hövelmann